Weihnachtsmorgen
gehalten von Diakon Michael Kuhn
2023 12 25 | Weihnachtstag | Betrachtung der Menschwerdung und der Geburt Jesu
Vielen von uns wird der Text der heutigen 2. Lesung aus dem Brief des Apostels Paulus an seinen Mitarbeiter Titus zwar bekannt vorkommen, aber gleichzeitig nicht mit Weihnachten in Zusammenhang gebracht werden. Das hat damit zu tun, dass er liturgisch zu dem Gottesdienst gehört, den man im Volksmund «die Hirtenmesse» nennt, die auch heute noch, oft im ländlichen Raum, am frühen Morgen des Weihnachtstages gefeiert wird. Da wir hier in Brüssel diesen Gottesdienst nicht feiern, ist dieser Text bei uns auch nicht im Gottesdienst als Lesung zu hören.
« Als die Güte und die Menschenfreundlichkeit Gottes, unseres Retters, erschien, hat er uns gerettet – nicht auf Grund von Werken der Gerechtigkeit, die wir voll-bracht haben, sondern nach seinem Erbarmen – durch das Bad der Wiedergeburt und durch die Erneuerung im Heiligen Geist ».
Dieser eine Satz fasst kurz und bündig die Weihnachtsbotschaft zusammen, und benennt den Kern dessen, was wir heute feiern: Um uns zu retten – vor uns selbst, dürfen wir hinzufügen – hat Gott in seinem Erbarmen mit den Menschen beschlossen, selbst Mensch zu werden. Er lädt uns ein, es ihm gleich zu tun, umzukehren und selbst «Mensch zu werden».
Das klingt auf den ersten Blick vielleicht etwas theoretisch und frag-würdig: Wie sieht es denn aus mit dem Erbarmen und der Menschenfreundlichkeit Gottes, wenn noch immer Krieg und Unrecht herrschen, wenn Unschuldige zu Tausenden getötet werden, wenn Menschen noch immer unter Ausgrenzung, Gewalt, Hunger und Verfolgung leiden und ihrer Lebensmöglichkeiten, ihrer Menschlichkeit be-raubt werden, wenn diese Welt noch immer die Gleiche zu sein scheint wie vor 2000 Jahren, als Jesus in Bethlehem geboren wurde? Dieses Handeln Gottes hat scheinbar nichts bewegt und verändert: Ist Gott selbst damit nicht nutzlos und der Glaube an ihn sinnlos? Wo bleibt denn seine Gerechtigkeit, wenn die Unschuldigen noch immer leiden und die Vergewaltiger, die Schinder, die Räuber und Möder ihrer gerechten Strafe entkommen und scheinbar triumphieren? Ist dann dieses hehre Sprechen von Menschenfreundlichkeit, Güte, Erbarmen und Rettung letzten Endes nicht nur hohles Gerede und leere Hoffnung?
In seinem Exerzitienbuch lädt uns Ignatius von Loyola ein, zu Beginn der zweiten Exerzitienwoche das Geheimnis der Menschwerdung und die Geburt Jesu zu betrachten und zu meditieren. Er baut dazu eine Szenerie auf – die Jesuiten sind nicht umsonst «Menschen des Theaters» – in der anschaulich gemacht wird, was mit diesem Geheimnis gemeint ist. Wir sind eingeladen, die Welt zu sehen, wie sie ist, und zu hören, was auf ihr vorgeht. In Ignatius Sprache: «Die Menschen in ihrer Unterschiedlichkeit zu sehen, schwarz und weiss, in Krieg und in Frieden, weinend und lachend, gesund und krank, geboren werdend und sterbend; wie sie miteinander sprechen, schwören und lästern; wie sie einander verwunden, töten, und schließlich zur Hölle gehen». Eine drastische und nicht misszuverstehende Beschreibung dessen, was wir auch heute noch auf der Erde vorfinden.
Im folgenden Schritt lädt er uns ein, unseren Blick auf Gott zu richten, der aus der Höhe dieselbe Erde sieht und das, was auf ihr geschieht. Gottes Blick ist aber weniger von Abscheu bestimmt, sondern von Erbarmen: er sieht die Menschen weniger in ihrer offensichtlichen Bösartigkeit, sondern in ihrer Blindheit, die es verhin-dert, den anderen oder die andere zu sehen wie er oder sie ist, sondern nur als den Konkurrenten oder ein Objekt für mein Handeln, an dem ich meine Lust, meinen Frust und meinen Hass ausleben kann.
Anders, als wir es erwarten würden, beschliesst Gott aber nicht, diesem Treiben der Menschen ein Ende zu setzen, indem er dazwischenfährt und dreinschlägt und die Lästerer, Schinder und Mörder ihrer gerechten Strafe zuführt – das tun sie nämlich bereits selbst – sondern indem er beschliesst, die Menschen von ihrer Blindheit zu erlösen durch selbst Mensch zu werden.
Dieses «Mensch werden» soll aber nicht nur zum Schein geschehen, wie es etwa die griechischen oder römischen Götter tun, die sich verwandeln und in Menschengestalt unter die Menschen begeben, meist, um ihren Gelüsten freien Lauf zu lassen, die aber sofort, wenn es brenzlig oder gefährlich für sie wird, sich in ihre göttliche Gestalt zurückverwandeln und aus dem Staub machen.
Gott will «durch einen Menschen zum Mensch werden», in aller Einfachheit und Demut, und mit all den Mühen und Schmerzen, die mit Menschwerdung verbunden sind.
Ignatius lenkt unseren Blick schliesslich aus dem bunten und wilden Treiben der Welt auf ein bescheidenes Haus in Nazareth, auf eine junge Frau, die nicht so recht weiss, was ihr geschieht, als sie ein Engel anspricht, grüßt und ihr mitteilt, dass Gott beschlossen habe, durch sie Mensch zu werden. Zuerst stellt sie das Ansinnen Gottes in Frage – «wie soll denn das geschehen» – um schliesslich frei und gleichzeitig demütig zu antworten: «es geschehe, ich bin dazu bereit, mich von Gott in Dienst nehmen zu lassen».
Damit werden die Konturen des Geheimnisses des Weihnachtsfestes deutlich: Gott möchte die Welt und den Menschen retten, aber nicht, indem er mit roher Gewalt dazwischenfährt, dreinschlägt und die die Dinge gleichsam von aussen «richtet und in Ordnung» bringt, sondern: von innen, indem er sich mitten in seine Schöpfung hineinbegibt, als Mensch unter Menschen, und damit den Menschen ausgeliefert, von einer Frau geboren schutz- und wehrlos wie ein Kind. Nicht die rohe Macht und Gewalt sollen die Veränderung und die Wiederherstellung der Ordnung bringen, sondern die sanfte Macht des Erbarmens und der Zuwendung.
Die ärmlichen Umstände der Geburt in einem Stall, fast auf freiem Feld, in Gesellschaft von einfachen Menschen, abseits der Reichen und Mächtigen, verstärkt noch einmal dieses Ansinnen Gottes, seine Zuwendung zum Menschen in Einfachheit und Ärmlichkeit zu zeigen und damit deutlich zu machen, wo und wofür er steht.
Ignatius lädt uns ein, uns dieses Geschehen bildlich vorzustellen und es in Stille mehrmals durchzugehen, es zu meditieren. Was höre ich in der Stille, was löst sie in mir aus, was wird mir dadurch, vielleicht nur zögerlich und schrittweise, verständlich- über Gott, über die Welt, über mich selbst? Wird es mir möglich, meine Perspektive zu verändern und die Sichtweise Gottes auf die Welt einzunehmen? Und wenn das der Fall sein sollte, welche Schlussfolgerungen ziehe ich daraus – für mein Den-ken, für mein Fühlen, aber vor allem für mein Handeln? Könnte daraus die Einsicht Raum gewinnen, dass die notwendige Veränderung und Rettung der Welt möglich ist, dass es dazu aber meiner Mitarbeit bedarf, um der sanften Stimme Gottes Ge-hör zu verschaffen und – bewegt und erneuert vom Heiligen Geist Gottes – seine sanfte Macht in der Welt wirksam werden zu lassen? Könnte das nicht die innerste, auch mich betreffende Botschaft von Weihnachten sein: in dieser Welt mit Gott, der Mensch geworden ist, selbst immer mehr und ganz, in aller Einfachheit und Demut, Mensch zu werden?