Weihnachten 2021

An Weihnachten 2021 die Sowjetunion zu erwähnen, erscheint zunächst einmal wie aus der Zeit gefallen. Erstens existiert sie seit 30 Jahren nicht mehr und zweitens haben wir nun wirklich andere Sorgen.

Dennoch beschäftigt mich dieses untergegangene Land im Moment, weil ich gerade ein Buch lese, das mich sehr zum Nachdenken bringt und am Ende sogar etwas mit Weihnachten zu tun hat, sehr zentral sogar.

Aber eins nach dem anderen.

 

Für Swetlana Alexijewitsch, 1948 in der Westukraine geborene ehemalige Sowjetbürgerin und Literaturnobelpreisträgerin von 2015 lebt die Sowjetunion immer noch -und zwar in den Köpfen vieler Bewohner dieses ehemaligen Weltreiches. Sie lässt viele in ihrem Buch „Second-life-Zeit“ zu Wort kommen. Darin erzählen diese von ihren Erinnerungen an die alte Zeit, an die Umbruchzeit und an die Jahre seitdem. Die alten Ideologien sind tot, aber die neue Zeit wird nicht nur als Befreiung, sondern oft als neue Unterwerfung unter die hohlen und menschenfeindlichen Regeln des Turbokapitalismus russischer Prägung empfunden. Eine Leere und Verbitterung macht sich breit, die viele Menschen die alten Ideen wieder herbeisehen lässt. So leben sie ein second life, ein aufgewärmtes Leben in der neuen Zeit.

Nebenbei erwähnt, wirft die Lektüre auch ein interessantes Schlaglicht auf die Denk- und Verhaltensweisen älterer Ostdeutscher, die den Westdeutschen oft so merkwürdig, undankbar und kaum nachvollziehbar erscheinen.

 

Wie oft ist in den letzten Wochen und Monaten in der Öffentlichkeit über die gespaltene Gesellschaft gesprochen worden, ich selbst werde das Wort auch das ein oder andere Mal benutzt haben. Festgemacht wurde es an den zwei Lagern von Gegnern und Befürwortern der Coronamaßnahmen. Die eine Seite war und ist dafür, die andere dagegen. Und dazwischen ein fast unüberbrückbarer Graben zwischen unversöhnlichen Positionen.

Dieses Bild vermittelt den Eindruck als würden diese beiden Blöcke in sich sehr einheitlich denken. Schaut man allerdings näher hin, dann wird man auf der Gegnerseite eine bunte Mischung von Individuen entdecken, die, wenn es nicht um Corona ginge, kaum etwas miteinander gemein hätten. Reichsbürger und Waldorfschüler, ängstliche um ihre eigene Gesundheit Fürchtende und ihre Chance, diesem Staat einmal ordentlich einen auszuwischen witternde Neonazis haben mit ebenso demonstrierenden evangelikalen Christen und „mein-Körper-gehört-mir-Überzeugten“ wenig gemeinsam.

Aber nicht nur auf DER Seite des Grabens. Auch die Befürworter der Maßnahmen sind nur in dem einen Punkt einig, ansonsten dürften sie so bunt sein wie es unsere gesamte Gesellschaft eben bunt ist.

 

Mir fällt dabei noch einmal sehr deutlich auf, was schon länger die Kehrseite der hohen Individualisierung ist, die unsere westlichen Gesellschaften seit nun vielen Jahren prägt: Was nämlich haben wir denn überhaupt noch gemeinsam? Was verbindet uns? In dieser Diskussion wurde vor Jahren z.B. einmal die Verfassung, also das Grundgesetz als Wertegrundlage der Deutschen genannt. Eine Verfassungsgesellschaft. So richtig hat das keinen vom Hocker gerissen. Was verbindet uns?

 

Und da kommt meine gegenwärtige Lektüre des eben erwähnten Buches wieder ins Gespräch.

Auch wenn der russische Kapitalismus der Gegenwart nicht mit dem zu vergleichen ist, mit dem der durchschnittliche Westdeutsche oder Österreicher groß geworden ist, so hat mich die Lektüre doch nachdenklich gemacht. Da wird beschrieben, wie sich nach 1991 alles Streben der Russen auf Reichtum und Wohlstand gerichtet hat. Nachvollziehbar, aber in seiner dann entstandenen Rücksichtslosigkeit abstoßend. Möglichst viel und möglichst alles- und zwar jetzt; ohne Rücksicht auf andere, ohne nach rechts oder links zu schauen. Jetzt bin ich dran, ICH und JETZT.

So ist das bei uns nicht. Da ist es gezähmt, durch das, was man soziale Marktwirtschaft nennt, auch wenn immer deutlich wird, das diese Zähmung immer nachlässiger wird und die Gefahr des ICH und des JETZT auch bei uns immer größer wird.

Was verbindet uns also?

Als der neue Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner Wahlkampfstrategie das Wort „Respekt“ benutzte und er vermutlich auch deswegen diese Wahl gewonnen hat, wurde mir klar, wie wichtig es offenbar im Moment geworden ist, etwas zu finden, was uns alle irgendwie miteinander verbinden könnte. Wenn es schon keine Vision ist, ein gemeinsames Ziel, das wir als Gesellschaft anstreben wollen, dann doch wenigstens der Respekt vor den einzelnen Zielen des jeweils anderen. Aber reicht das? Braucht es nicht mehr? Müssten wir nicht ein paar Ziele diskutieren und diese dann vereinbaren?

Aber ginge das überhaupt noch?

Sind wir inzwischen nicht so fragmentiert in unseren Interessen und Vorstellungen von gutem Leben, dass wir uns überhaupt noch auf etwas Gemeinsames einlassen könnten? Und was wäre das? Was sollte das sein?

Und lehrt uns unsere Geschichte, geprägt von Nationalsozialismus und Kommunismus nicht, dass wenn ein Staat versucht, seine Bewohner zum eigenen Glück zu zwingen, dieser Schuss nur nach hinten losgeht?

Und wäre es wünschenswert, wenn z.B. eine Institution wie die katholische Kirche wieder so mächtig wäre, dass sie den Alltag und die Moralvorstellungen eines Landes so prägen könnte, dass wir alle sozusagen wieder an einem Strang zögen?

Sie sehen, ein zweischneidiges Schwert, das da irgendwo zwischen der Gesellschaft überzogener Individualisten und dem absoluten Einheitsstaat einen Schnitt setzt. Beides werden wir nicht wollen, müssten aber etwas finden, das dem Einzelnen seine individuelle Entwicklung zugesteht, die Gesellschaft als Ganzes aber zusammenhält.

 

Volkskirche werden wir wohl nie wieder. Es wird nicht wieder dazukommen, dass in Rom entschieden wird, wie Menschen ihr Sexualleben führen, dass ein Hirtenwort entscheidend für den Ausgang einer Bundestagswahl wird. Die Zeiten sind vorbei an denen an Karfreitag ein Land vollkommen still stand oder sonntags am Vormittag außer der Besuch der Hl. Messe nichts anderes möglich war.

Und dennoch meine ich, dass es wertvoll wäre, wenn wir uns andere, zusätzliche Ziele setzen würden, die über das persönliche Wohlergehen hinausgingen. Das wird in absehbarer Zeit nie wieder eine ganze Gesellschaft miteinander verbinden, aber wenn zumindest Teile von etwas erfüllt sind, was ALLEN gut tut, könnte daraus eine Signalwirkung erwachsen.

 

Und da kommt nun endlich Weihnachten ins Spiel: Und plötzlich war bei dem Engel ein großes himmlisches Heer, das Gott lobte und sprach: Verherrlicht ist Gott in der Höhe / und auf Erden ist Friede / bei den Menschen seiner Gnade.

So heißt es im Lukasevangelium: Und auf Erden ist Friede bei den Menschen seiner Gnade.

Da ist sie, die Vision, für die sich der Einsatz lohnen würde, die Idee, die Menschen verbinden könnte, das Ziel, für das sich jeder Einsatz lohnte: Friede auf Erden bei den Menschen.

Das nun ist für Christen das Gebot der Stunde: auszubuchstabieren, was das für uns bedeuten könnte.

Die Engel verkünden den Menschen den Frieden auf Erden. Sie waren nicht so blind ihn einfach auszurufen, sozusagen als Verordnung für alle, umzusetzen als Befehl von ganz oben.

Sie verkünden es als Vision, als Handlungsrahmen.

Euch, Menschen, nicht nur Euch Christen, Euch Menschen ist einer geboren, der den Frieden bringen kann.

Wenn Ihr Euch auf ihn einlasst, wenn Ihr Euch seine Maßstäbe zu eigen macht, wenn Ihr auf seine Lebensweise und seine Gottverbundenheit schaut, sie für Euch anstrebt, dann könnt Ihr Frieden in dieser Welt schaffen.

Wenn Ihr auf diesen Neugeborenen im Stall von Bethlehem schaut, dann könnt Ihr aus seinem Leben Maßstäbe und Orientierung entwickeln, die ein friedliches Miteinander aller Menschen ermöglichen können. Frieden ist möglich.

In einer Zeit, in der immer wieder vom Graben zwischen den Menschen die Rede ist, der immer unüberwindlicher wird, in einer Zeit, in der in der Ukraine sogar wieder Krieg droht, in einer Zeit, in der die Interessen der Menschen, die durch die Pandemie um vieles streiten, immer bedrohlicher aufeinanderprallen, sind wir Christen mit unserer Botschaft mehr als gefragt: Friede den Menschen auf Erden.

Daraus ergibt sich nicht sofort eine klare Handlungsanweisung. Aber es ergibt sich ein Maßstab, der sich im Alltag anwenden lässt: Dient dieses oder jenes dem Frieden der Menschen? Hilft meine Einstellung und Vorstellung vom guten Leben dem Frieden der Menschen? Tut mein Handeln auch anderen gut oder nur mir?

Diese Frage lässt sich bei jeder Entscheidung, die man für sich und andere trifft vorschalten: Dient es dem Frieden unter den Menschen?

 

Wir Christen sind davon überzeugt, dass, wenn wir uns Gott zuwenden, innerer Frieden für uns möglich ist. Und wenn wir inneren Frieden gefunden haben, werden wir auch Wege finden, den Frieden für andere anzustreben.

Die Engel machen uns zu ihren Komplizen. Sie versprechen uns etwas, das gleichzeitig Handlungsaufforderung ist: Ja, Ihr könnt Euch darauf verlassen. Wenn Ihr Euch auf ein Leben mit diesem neugeborenen Jesus Christus einlasst, dann ist Euch innerer Frieden sicher. Und dieser innere Frieden hinterlässt seine Spuren in der Welt, führt auch zu äußerem Frieden, lässt Euch nicht ruhen, bis auch andere Menschen diesen Frieden erfahren. Verheißung und Aufgabe.

 

Menschen brauchen eben anderes als immer nur „so viel wie möglich und zwar jederzeit“- das gilt nicht nur für die ehemalige Sowjetunion, das gilt überall, wo Menschen nur noch sich selbst und ihre Interessen im Blick haben, wo die innere Leere mit immer mehr gefüllt werden soll.

 

Wir Christen haben eine Alternative: Heute feiern wir sie. Wir glauben, dass die Welt eine bessere sein könnte. Lassen wir uns vom  Frieden der Heiligen Nacht erfüllen, möge Weihnachten uns immer wieder daran erinnern, wozu wir Menschen berufen sind und möge uns das Fest die Kraft geben, immer wieder Brücken zu bauen, da wo unüberwindliche Gräben zu existieren scheinen.

Und  Friede den Menschen auf Erden.