Karfreitag
Karfreitag 2022
Nun sind wir wieder mittendrin in den Texten von Opfer, von unendlichem Schmerz, von Trauer, von Sünde und unserer Schuld.
Die Liturgie des Tages bemüht sich mit allen Kräften, das Grausame am Tod Jesu in Erinnerung zu rufen.
Die besungene Dornenkron, das Haupt voll Blut und Wunden, die Angst, Not und Pein- Händ, Füß und Seit durchstochen; Ins Angesicht geschlagen und verhöhnet.
Man könnte sich geradezu suhlen im Leide Jesu.
Bei aller Verehrung für diesen Weg Gottes mit und für uns Menschen aber beschleicht mich immer wieder ein merkwürdiges Gefühl, wenn ich dieser Liturgie folge oder ihr selbst vorstehe. Irgendetwas passt für mich nicht zusammen.
Und zwar aus zwei Gründen: bei Licht und nur auf menschlicher Ebene betrachtet muss man doch zugeben, dass der Karfreitag nicht der schlimmste Elendstag in der menschlichen Leidensgeschichte ist: Was ist mit all den Namenlosen, die in den KZs vergast wurden, was mit den Abertausenden, die in den Gulags Stalins verschwanden, die vielen Opfer der Kulturrevolution Chinas, die grauenvollen Massaker in Ruanda, die Erschießungen von Srebrenica, was ist mit dem Elend in Dafur und im Südsudan, mit dem endlosen Leid des kambodschanischen Volkes unter den roten Khmer, der Versklavung von Millionen Afrikanern nach Nord- und Südamerika oder heute mit den vielen, die gerade in der Ukraine in ihren Häusern sitzen und jederzeit mit Flucht, Bombardierung, Gewalt an Zivilisten oder gar mit dem Tod rechnen müssen?
Soll das alles nicht so schlimm gewesen sein wie der Tod eines Einzelnen am Kreuz vor 2000 Jahren?
Nein, der Tod Jesu war grauenvoll, aber was Menschen sonst noch anderen Menschen antun und angetan haben ist genauso schlimm und schlimmer.
Auch wenn sich Mel Gibson mit seinem Film Passion in 2004 aufs intensivste bemüht hat, den Tod Jesu mit schrecklichen Details auszumalen, so bleibt es doch nur ein furchtbarer Tod unter vielen menschlichen Toden.
Mein Unwohlsein im Suhlen des Leides Jesu baut sich aber auch auf der Erkenntnis auf, dass das Betrachten von Gewalt eher selten zur Abkehr von Gewalt führt. Im Gegenteil. Gerade gibt es viele Artikel zu der Frage, warum die russische Armee besonders brutal vorgeht. Das hat viele Gründe, aber offenbar auch den, dass viele der Offiziersränge zumindest, selbst viel Gewalt erfahren haben. Militärdienst in Russland war nie Zuckerschlecken und schon für den durchschnittlichen Rekruten oft ein Albtraum.
Aber auch die vielen Untersuchungen, die sich mit Videospielen beschäftigen, die vor allem auf Gewalt setzen, haben noch einen weiteren Aspekt ergeben; nämlich den, dass Gewalt eben auch fasziniert, dass es etwas im Menschen gibt, dass ihn Gewalt gerne sehen lässt.
Was wären all die Krimis im Abendprogramm der endlos vielen TV-Sender ohne unsere Faszination von Gewalt? Nichts- die würden schnellsten abgesetzt, weil sie keine Quote mehr brächten. Sie bringen aber Quote.
Das Leid Jesu aber soll keine Quote bringen, sondern zur Veränderung führen, eben nicht zur Faszination und einem „Sich-Weiden“ am Elend eines Anderen, am Elend des Sohnes Gottes, sondern zur Abkehr von Gewalt.
Und damit sind wir schon mittendrin im zweiten Faktum, das mich stört am intensiven Betrachten des Leides Jesu: es führt uns theologisch auf den falschen Pfad. Gewalt heilt nicht. Der Heiland kann nicht zum Heil führen, wenn ich bei seinem erlebten Unheil stehen bleibe.
Der Karfreitag verändert uns Menschen erst dann zum Positiven, wenn ich auf das Erlösende des Geschehens schaue.
Und das Erlösende macht sich fest an der Tatsache, dass der Karfreitag zwar ein Tag des Leides ist, aber des Leides eines Menschen, der selbst frei von Gewalt war.
Die Erwartungen an ihn waren hoch und beruhten vor allem auf der Hoffnung, Israel endlich von der verhassten Herrschaft der Römer zu befreien. Noch als er bei der Verhandlung vor Pilatus steht bringt Jesus selbst den normalen menschlichen Gedankengang ins Spiel: „Meinst Du nicht, mein Vater könnte seine Engel schicken, um mich hier zu befreien?“ fragt er.
Das wäre der menschliche Weg: Gewalt.
Und wir sind leider bis heute auf diesem Pfad der Gewalt, gefangen in unseren menschlichen Verhaltensweisen und können oft nur wählen zwischen Pest und Cholera. Sollen westliche Staaten in der Ukraine eingreifen oder nicht? Sollte der Luftraum der Ukraine von NATO-Staaten überwacht werden oder nicht? Würde eine Lieferung schwersten Kriegsgerätes der Ukraine helfen, Russland in seine Schranken zu verweisen oder würde das der Beginn eines dritten Weltkrieges sein? Und so werden so oder so also Tag für Tag Menschen weiter sterben und andere sich auf den Weg machen, um diesem endlosen Elend aus dem Weg zu gehen. DAS ist das wirkliche Elend menschlicher Geschichte, das lohnt betrachtet zu werden.
Karfreitag war schlimm, aber schlimmer ist, dass wir bis heute 2.000 Jahre nach dem gewaltsamen Tod Jesu immer noch auf das Mittel der Gewalt setzen und manchmal eben wie in so vielen Konflikten der Gegenwart noch nicht mal die Wahl haben, NICHT auf Gewalt zu setzen. Man kann versuchen sich zu enthalten, irgendwie neutral zu bleiben, versuchen Vermittler zu sein statt Konfliktpartei. Dabei hält man im besten Fall nur die eigenen Soldaten aus dem Krieg heraus, stoppt aber nicht das Töten von Menschen. Das ist das WAHRE Elend menschlicher Existenz, was wir betrauern sollten.
An Karfreitag sollten wir den MENSCHEN betrauern, den Menschen in Jesus. Aber eben nicht dabei stehen bleiben. Karfreitag ist auch ein Freudentag. Denn hier hat das GÖTTLICHE in einem Menschen gezeigt, dass es auch einen anderen Weg gibt.
Jesu und Gottes Gewaltlosigkeit haben zwar nicht den Tod Jesu verhindert. Wir wissen aber, dass das nicht das Ende der Geschichte ist, sondern nur der erste Teil. Den zweiten und entscheidenden feiern wir am Ostermorgen.
Wir sagen immer, der Tod Jesu hätte uns erlöst von der Sünde. Ja, das hat er- weiß Gott, darf man da sehr bewusst sagen, weiß Gott.
Der Tod Jesu zeigt uns auf, dass wir erlöst sein könnten von dem ewigen Kreislauf von Gewalt und Gegengewalt, wir könnten erlöst sein von der Sünde, Menschen zu töten und wir wären damit erlöst von der Gottesferne, denn die Gewaltlosen sind die Töchter und Söhne Gottes, wie es Jesus in der Bergpredigt selbst formuliert hat.
Aber wir können es offenbar nicht. Nur wenige von uns, Menschen die wir als Heilige verehren, ob sie nun Christen waren oder nicht.
Was können wir tun? Als Einzelne können wir auf Gewalt verzichten, den Versuch ist es allemal wert- und als Staaten müssen wir es nach wie vor wohl ein wenig einschränken: als Staaten sollten wir möglichst auf Gewalt verzichten, militärisch wie wirtschaftlich. Dort aber, wo wir keine andere Möglichkeit haben, sollten Staaten den Weg gehen, der weniger Gewalt nach sich zieht als ein anderer Weg. Das ist das Zugeständnis, was wir wohl leider auch als Christen dem Menschen im Menschen machen müssen.
Aber wir sollten dabei nie das Göttliche im Menschen aus dem Auge verlieren, das aus Respekt vor der Ebenbildlichkeit eines jeden Menschen mit seinem Schöpfer vor Gewalt zurückschrecken muss.
Karfreitag ist somit der Tag der Erlösung.
Wir MÜSSEN nicht den Weg der Gewalt gehen, wir MÜSSEN nicht in der Faszination des Tötens stehen bleiben, sondern dürfen uns der befreienden Wirkung der vermeintlichen Ohnmacht des Gekreuzigten ergeben.
Aus dem Haupt voll Blut und Wunden wird das leuchtende Antlitz des Auferstandenen.