23. Januar 3. Sonntag i. J.
Viele Wörter in dem gerade gehörten Evangelium sind von großer Bedeutung: den Armen eine gute Nachricht bringen, z.B., oder
den Gefangenen die Entlassung verkünden;
den Blinden das Augenlicht;
die Zerschlagenen in Freiheit setzen.
Sätze, die etwas sehr Befreiendes haben. Ein Versprechen, eine Aussicht, die Jesus da gibt, die etwas Faszinierendes hat.
Danach sehnen wir uns doch alle.
Darauf hat sich auch damals die Sehnsucht der Zuhörer in seiner Heimatsynagoge Nazareth gerichtet.
Da saßen sie nun. Die meisten Gemeindemitglieder werden Jesus gekannt haben. War er doch in ihrer Mitte aufgewachsen. Sie hatten ihn groß werden sehen als Sohn des Zimmermanns Josef von Nazareth. Und nun lief ihm sein Ruf als faszinierender Wanderprediger, der offenbar auch Wunder tut voraus. Er lehrte vom Geist erfüllt –wie es da heißt- landauf und landab in den Synagogen.
Und nun sitzt er also in der Heimat, man reicht ihm zum Vorlesen das Buch Jesaja, Jesus schlägt es an einer Stelle auf und findet die eben gelesenen Worte aus dem alten Prophetenbuch. Endlich: Befreiung für Gefangene, für Blinde und für Zerschlagene. Die Not wird ein Ende haben.
Die Frage, die sich an solch eine Prophezeiung immer knüpft und auch damals sicher geknüpft wurde war die nach dem Wann.
WANN werden die Gefangenen befreit, WANN werden die Blinden sehen, WANN die Zerschlagenen in Freiheit gesetzt?
Reden und versprechen können viele etwas, das Blaue vom Himmel. Aber konkret muss die Antwort werden, wenn es um das WANN geht. Wann also?
Überraschenderweise muss Jesus erst gar nicht danach gefragt werden. Er gibt gleich von selbst die Antwort- und die ist mehr als erstaunlich. Er sagt nämlich. HEUTE, Heute hat sich das Schriftwort, das ihr eben gehört habt, erfüllt.
Wir hören heute nicht die Reaktion der Leute, aber man kann sie ahnen. Man muss sich ja nur selbst in die Situation hineinversetzen: Sie saßen alle da, erinnerten sich an die eigenen Nöte als Jesus aus dem Buch Jesaja vorlas, hatten die Situation des unter der Besetzung durch die Römer leidenden Israel vor Augen und nun kommt dieser Jesus und sagt: Ihr werdet befreit. Sie werden gehofft haben, dass er sich nun an die Spitze einer Revolutionsbewegung setzt, als deren charismatischer Anführer er durch das Land ziehen würde und den Römern den Garaus machen könnte. Dazu hätte er aber z.B. sagen müssen: Gebt mir ein Jahr oder zwei- und wir werden die Römer vertrieben haben. Gebt mir fünf Jahre und wir haben die Verhältnisse so stabilisiert, dass im Land die Menschen wieder frei leben können und das Elend ein Ende findet. Er aber sagt. HEUTE
Nun ist das Gedankenexperiment, das wir hier gerade machen ja nicht nur ein Ausflug in die Historie. Im Grunde muss uns die Reaktion der damaligen Zuhörer nicht interessieren. Eigentlich müssten WIR es sein, die sich noch mehr als die damaligen Synagogenbesucher über diese verwegene Aussage Jesu echauffieren und aufregen müssten. Vor zweitausend Jahren also hat Jesus behauptet, dass sich damals schon die Prophezeiung des Jesaja erfüllt habe. Er hat mich gesandt, damit ich den Armen eine gute Nachricht bringe; damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde und den Blinden das Augenlicht; damit ich die Zerschlagenen in Freiheit setze
und ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe.
Ja und Jesus? Was hat sich verändert? Es gibt immer noch Millionen Entrechtete, immer noch schrecklich viele, deren Augen blind sind, Abermillionen Arme, die auf die gute Nachricht warten, Gefangene, die befreit werden wollen. Bis heute von Gnadenjahr des Herrn keine Spur.
Also, hat Jesus sich geirrt? Hat er den Mund zu voll genommen? Die Welt läuft nach ihren alten Gesetzen weiter. Sieger und Besiegte, Kranke und Gesunde, Arme und Reiche leben weiterhin, oft ungerecht nebeneinander. Keine Änderung.
Es ist das altbekannte Dilemma vom Reich Gottes, das schon da ist, begonnen hat und sich doch noch nicht ganz entfaltet hat. Ein etwas schwächelndes Hilfskonstrukt.
Ich behaupte, dass Jesus Recht hatte und es bis heute hat. Das Gnadenjahr des Herrn ist da. Das Wort des Jesaja hat sich erfüllt. Und mir scheint, dass das die damaligen Zuhörer ebenfalls so gesehen haben.
Jesus ist bekanntlich im Verlauf seines Wirkens angeklagt und verurteilt worden. Die Anklage lautete aber nicht auf Betrug. Es hat ihm niemand vorgeworfen, dass er leere Versprechungen gemacht habe, dass seine Worte hohl wären, dass er zwar das Blaue vom Himmel versprochen hätte, aber davon nichts umgesetzt würde. Im Gegenteil. Er war angeklagt worden, weil es langsam gefährlich wurde. Seine Überzeugungen hatten sich in den Köpfen der Leute festgesetzt, veränderten diese, so sehr, dass manche sehend wurden, wie befreit handelten und die Menschen eine Perspektive für ihr Leben sahen. Sie schüttelten das Joch ab.
Da kannten die Herrschenden kein Pardon mehr. Nichts war gefährlicher als Unruhe, möglicher Aufruhr und Umsturzgefahren. Deswegen wurde er festgesetzt und unschädlich gemacht am Kreuz.
Wie hatten sie sich verrechnet. Aus der Bewegung Jesu ist die bis heute größte Religionsgemeinschaft der Erde geworden. Und das hat seine Gründe nicht nur in der Kolonisierung und damit verbundenen Zwangsbekehrungen, wie das sicher mancher den Kirchen vorwerfen wird. Es ist deswegen ein dauerhafter Erfolg, weil die Hoffnung auf Befreiung und Heilung immer wieder riesige Kräfte freisetzt und Menschen Veränderung ermöglicht.
Hier liegt der Schlüssel. Man findet keinen ernstzunehmenden Hinweis darauf, dass Jesus von sich geglaubt hat, dass mit seinem Auftreten schlagartig alles Elend der Welt beseitigt würde.
Er hat uns aber einen Schlüssel zum Verständnis der Welt und des eigenen Lebens mitgegeben:
Ihr seid von Gott geliebt und Ihr seid nicht allein.
Im Vertrauen darauf, dass Ihr ewig von ihm geliebte Geschöpfe seid und im Vertrauen darauf, dass Ihr selbst ewig seid, könnt Ihr leben und handeln. Für Jesus war aus diesem Grunde das Reich Gottes präsent, es war da. Er hat es immer wieder umgesetzt, wahr gemacht, erfahrbar gemacht, den Himmel auf die Erde geholt, so sehr, dass ihn der Tod nicht umbringen konnte, so sehr, dass er weiterlebte und Menschen durch ihn verändert wurden. Er hat das Reich Gottes sichtbar gemacht; das, was schon immer da war, immer ist und immer sein wird auf die Bühne der Welt gebracht, den Vorhang geöffnet. Hier und heute ist das Reich Gottes da. Lebt so als wäre es schon da, und es wird da sein.
Zum Glück gibt es in der langen Geschichte von Menschen, die den Glauben an Jesus gelebt haben genug, die sichtbar gemacht haben, was Jesus gemeint hat. Sie haben gelebt, was er vorgelebt hat. Mit ihnen hat sich ihr jeweiliges Umfeld verändert, mit ihnen wurden Menschen befreit, mit ihnen wurde das Leben Jesu immer wieder präsent, gegenwärtig.
Die lange inzwischen 2000-jährige Geschichte des Christentums lehrt uns doch eines: Das Reich Gottes fällt nicht vom Himmel, es wird sich nicht schlagartig alles zum Garten Eden verändern. Das wäre eine schreckliche Vertröstung auf das Morgen, immer wieder in die Zukunft hinein, schlussendlich wäre es ein Verulken, ein auf-den-Arm-nehmen des heutigen Elendes.
Reich Gottes ist nicht morgen oder übermorgen, Reich Gottes ist heute. Wir sind nicht zum demütigen Ausharren verdammt, sondern können handeln, jetzt, heute, in diesem Moment. Befreit durch die Gewissheit der ewigen Liebe Gottes können wir die Liebe Gottes sozusagen befreien, können sie frei lassen, wirksam werden lassen. Sie ist immer da, sichtbar wird sie durch uns.