19. März, 4. Fastensonntag

Es gibt wenige theologische Fragen, die mich mehr in Rage bringen als diese, die in diesem Evangelium zu Beginn gestellt wird: Da fragten ihn seine Jünger: Rabbi, wer hat gesündigt?
Er selbst? Ober haben seine Eltern gesündigt, so dass er blind geboren wurde?

Ja, so dachte man.

„Jemand wurde mit einer Behinderung geboren? Das musste einen Grund haben. Vermutlich spielt da irgendeine Sünde eine Rolle. Entweder eine Sünde der Eltern oder eine Sünde, die er selbst begonnen hat.“

Interessant übrigens, dass danach gefragt wird, welche Sünde der Blindgeborene selbst getan haben könnte, dass er eben blind geboren wurde. Wann denn? Vor seiner Geburt? In einem Leben davor?

Nun, das soll uns heute nicht weiter beschäftigen.

 

Damals glaubte man also, dass es einen Zusammenhang zwischen Behinderung oder Krankheit auf der einen Seite und Sünde auf der anderen gäbe.

Damals?

In den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts wurde AIDS als Strafe Gottes von manchem Kirchenmann hingestellt.

Und noch im März 2020 mussten sowohl der damalige EKD-Ratspräsident Bedforth-Strom für die evangelische Kirche und Bischof Wilmer aus Hildesheim für die Kath. Kirche erklären, dass Corona keine Strafe Gottes sei. Denn viel zu viele bezogen sich wieder auf diesen uralten Erklärungsversuch; es war ja offensichtlich, dass Corona über die Welt gekommen war, weil wir leben wie wir leben, verbunden mit allen, frei reisend, Wildtiere essend oder in Laboren Versuche mit Viren anstellend. Wenn so etwas passiert, ist das die Folge unseres Handelns, wir werden bestraft für Übermaß, Unüberlegtheit oder Blindheit für unser eigenes Tun. Da ist es nicht mehr weit bis zu der Position, dies als die Strafe durch jemanden zu sehen, der hinter dieser Welt steht, sie begründet und erschaffen hat, Gott eben.

 

 

Manchmal kommt diese Krankheit-/Strafebeziehung aber nicht ganz so offensichtlich daher.

 

Aber lesen Sie als Betroffener mal in Ratgebern für Krebserkrankte oder gehen Sie mal in manche dieser Selbsthilfegruppen. Da wird von der eigenen Lebenseinstellung gefaselt, und zwar von negativen Lebenseinstellungen, die das krankhafte Zellwachstum begünstigen und dementsprechend mit einer veränderten Sichtweise auf das eigene Leben positiv beeinflusst werden können.

Am Ende ist es der Krebskranke selbst schuld, dass er diese Krankheit entwickelt hat. Grauenvoll.

Natürlich gibt es Infektionen, die man hätte verhindern können, wenn man sich vorsichtiger verhalten hätte. Im Winter zu leicht bekleidet nach draußen zu gehen, ist vermutlich keine gute Idee, wenn man eine schwere Erkältung verhindern will. Ständig zu fett zu essen und sich dabei zu wenig zu bewegen öffnet Herz- und Kreislauferkrankungen erfahrungsgemäß Tür und Tor. Aber auch da ist es kein Automatismus. Ein einfaches Deutemuster von Ursache und Ausbruch einer Krankheit gibt es in den seltensten Fällen und ganz sicher nicht im Sinne von Sünde des Einzelnen oder gar der Eltern eines Erkrankten oder Behinderten.

 

Vielmehr sind diese Deutungen, wie sie auch in der Frage der Jünger zum Blindgeborenen an Jesus zum Ausdruck kommen, ein Ausdruck für die Hilflosigkeit, für unseren Wunsch nach Verstehen.

Wir würden gerne wissen, warum diesem und jenem diese Krankheit, diese Behinderung widerfährt.

In dieser Welt gibt es nichts, was nicht von etwas anderem ausgelöst wurde. Naturphänomene lassen sich physikalisch erklären, Unfälle durch das Fehlverhalten von Menschen rekonstruieren, Kriege werden durch Hass oder Missgunst ausgelöst. Alles hat einen Grund und umso mehr möchten wir die Dinge verstehen, die uns unbegreiflich erscheinen. Auch da muss es – unserer Welterfahrung nach- einen Grund geben, selbst wenn wir ihn nicht kennen. Warum also nicht annehmen, dass die Sünde des einzelnen oder der Eltern der Auslöser sein könnten?

 

Die Antwort Jesu allerdings lässt keinen Raum für eine derartige Spekulation: Weder er noch seine Eltern haben gesündigt,
sondern das Wirken Gottes soll an ihm offenbar werden.

Aha: Blödsinn also. Mit Sünde hat die Behinderung, hat die Krankheit nichts, aber auch gar nichts zu tun.

Sondern: Das Wirken Gottes soll an ihm offenbar werden.

Ich kann mich immer wieder an dieser Antwort Jesu begeistern. Jesus spekuliert nicht über die Ursache, es ist vollkommen gleichgültig, ob da ein Fehlverhalten, eine moralische Unvorsichtigkeit, ein genetischer Defekt, was auch immer vorliegt. Entscheidend ist für ihn, dass da ein leidender Mensch vor ihm steht, dessen Daseinssinn es nicht ist, sich kleinmütig in die Ecke zu setzen, sich sein Gehirn darüber zu zermartern, was er wohl falsch gemacht hat, dass sein Körper nun von dies oder jenem befallen ist, sondern, der für etwas Großartiges in dieser Welt ist: Damit das Wirken Gottes an ihm offenbar werden kann.

Und dann macht sich Jesus gleich ran. In einer archaisch anmutenden Weise mischt er seinen Speichel mit Erde, streicht sie auf die blinden Augen des Mannes, fordert ihn auf, sich im nahen beiliegenden Teich zu waschen- und dieser Mann ist geheilt. Das Wirken Gottes wurde an ihm offenbar.

 

Dieses Wunder findet sich nur im Johannesevangelium. Typisch für Johannes ist, dass er nicht von Wundern spricht, sondern von Zeichen. Die Taten, die er von Jesus berichtet, dienen alle einem einzigen Zweck: Jesus als den göttlichen Gesandten darzustellen. Seine Taten sind sozusagen Beweise für seine Göttlichkeit.

 

Zwei Einwände könnten sich dementsprechend in Bezug auf diese Erzählung vom Blindgewordenen ergeben.

Zum einen: Jesus benutzt also die Kranken nur. In einer Machtdemonstration seiner Göttlichkeit heilt er einige wenige und die anderen kümmern ihn nicht.

Zum anderen: Was haben heute lebende Kranke und Behinderte von diesem damals von Jesus gesprochenen Satz, dass das Wirken Gottes an ihnen offenbar werden solle. Doch offenbar nichts.

 

Wunder als Machtdemonstration? Nun, dem Blindgewordenen dürfte das herzlich egal gewesen sein. Für ihn war wichtig, dass er wieder sah. Der Grund spielte keine Rolle. Er war geheilt. In seinen Worten: Ob er ein Sünder ist, weiß ich nicht. Nur das eine weiß ich,
dass ich blind war und jetzt sehen kann.

So ist es. Alles andere ist doch vollkommen egal. “Soll er ein Sünder sein, soll er mich zur Machtdemonstration seiner Göttlichkeit benutzt haben. Na und? Ich bin geheilt! Für mich ist er ein Held.“ So darf man das wohl übersetzen.

 

Der zweite Einwurf, was denn heute Kranke und Behinderte von Jesu Antwort haben, ist schwieriger zu entkräftigen.  Kann heute Gottes Wirken an ihnen offenbar werden? Und wenn ja, wie?

 

Ich meine in zweifacher Weise:

Für jeden Schwerkranken und jeden Behinderten ist die Frage nach dem Grund eine überaus schwerwiegende. Wir alle wollen verstehen und besonders der Betroffene will es. Er will irgendeinen Sinn in seinem Leid erkennen. Ich meine, dass es eine große Hilfe ist, einen Kranken davon freizusprechen, dass er irgendeine Schuld an seinem Zustand trägt. Mit den Worten des Evangeliums: dass er nicht gesündigt hat. Sein Zustand ist keine Folge einer Sünde.

Das kann sehr erlösend sein. Einem Krebskranken, der sich in vielen Momenten das Gehirn zermartert, was er wohl hätte anders machen müssen, kann diese Nachricht eine große Erleichterung sein: Nein, Du kannst nichts dafür. In dieser Welt, in diesem irdischen Leben gibt es Katastrophen, Krankheit und Tod. Wir wissen nicht, warum das so ist. Aber Dich trifft keine Schuld daran.

Und welche Kraft kann es möglicherweise einem GLÄUBIGEN Kranken geben, wenn er seinen Zustand als etwas deuten kann, an dem Gottes Wirken offenbar werden soll. Natürlich wünscht der Kranke sich nichts mehr als Heilung. Aber ist es nicht schon heilsam zu wissen, dass er in Gottes Wirken eine Rolle spielen soll? Kann es nicht hilfreich sein, das eigene Leid in einem größeren Zusammenhang zu sehen, im Zusammenhang mit Gott? Kann es nicht erlösend sein, zu ahnen, dass da eine andere Dimension, Gottes Dimension wirksam ist, in die ich mich vertrauensvoll geben darf?

 

Darüber hinaus ergibt sich für uns Glaubende ein Auftrag aus dem Wirken Jesu. Denn durch uns kann sein Wirken offenbar werden.

Nein, wir verfügen nicht über die Kraft der Wunder. In der Regel werden Kranke von uns nicht durch Zeichenhandlungen geheilt. Eine Mischung aus Speichel und Erde von uns zusammengemischt wird keinen Blinden heilen.

Und dennoch können wir Wunder an Kranken vollbringen. Wir können sie aufrichten. Durch Besuche, durch Anteilnahme, durch die richtigen Worte zum richtigen Zeitpunkt.

Neben der Heilung wünscht sich ein Kranker nichts mehr als aus der Isolation der Krankheit herauszukommen. Er wünscht sich, Teil dieser Welt zu sein, nicht abgestempelt, sondern selbstverständlich dazugehörend. Wer glaubhaft vermitteln kann, dass Leid, Krankheit und Elend eben Teil dieser Welt sind, erklärt auch den Schwerkranken als Teil dieser Welt. Du Kranker bist ein Teil dieses großen Kreislaufes des Lebens, in dem wir alle eingespannt sind, mit den Höhen und Tiefen, mit den Krisen und Hoch-zeiten des Lebens. Das gehört alles zusammen, ist alles umfangen, von dem Gott, von dem Jesus erzählt hat. Daraus kannst Du nicht fallen, egal, was Dich be-fallen hat.

Einen Menschen zur Akzeptanz seines Lebens mit allen Höhen und Tiefen zu führen, ist Heilung, kann erlösend sein. Dann wird nicht nur durch Jesus Gottes Wirken in der Welt offenbar, sondern auch durch uns.