19. März, 4. Fastensonntag, 10h (Br. Alexander Maly OP)

Predigt 4. Fastensonntag über Joh 9, 1-41

Alexander Maly OP

Wunderheilungen … Zeichen. Wenn mir jemand draußen in der Metro-Station Montgomery von einer Wunderheilung berichten würde, dann wäre ich wohl sehr skeptisch und könnte die Geschichte nur schwer glauben.

Doch genau damit, mit einer Wunderheilung, einem Zeichen, steigt das heutige Evangelium ein. Es ist die Erzählung von der Heilung eines blinden Menschen.

Und die startet mit einer ziemlich entwaffnenden Reaktion der Jünger. „Wer hat gesündigt“, fragen sie Jesus direkt, als Sie merken, dass sie auf einen Blinden treffen. Statt sich ihm liebend zuzuwenden,  unterstellen ihm die Jünger direkt, bei seiner Beeinträchtigung wäre Sünde im Spiel. Was nicht ganz der Norm entspricht, muss erstmal grundsätzlich schlecht sein. Anstatt zu fragen: „Rabbi, wie können wir helfen und barmherzig sein“, stellen die Jünger Jesus sinngemäß die Frage: „Rabbi, wem können wir heute Böses unterstellen?“

Jesus lenkt an der Stelle ziemlich klug das Gespräch mit seinen Jüngern in eine andere Richtung. „Weder er noch seine Eltern haben gesündigt, sondern die Werke Gottes sollen an ihm offenbar werden“. Und anstatt weiter zu kommentieren, oder einen Sündenkatalog herauszuholen, wendet sich Jesus dem blinden Menschen direkt zu und handelt, wie er kann. Beschrieben wird das im Evangelium als ein Wunder, ein Zeichen. Jesus spuckt auf die Erde, macht einen Teig, streicht ihn dem Blinden auf die Augen und sagt: „Geh und wasch dich!“ Und danach konnte der ehemals blinde Mensch sehen, so erzählt es das Evangelium. Kaum zu glauben?

Deuten wir es mal so. Jesus hat anscheinend ein Gespür dafür, wenn Menschen ausgeschlossen sind. Wie so häufig in den Evangelien stellt er sich auch hier bedingungslos an die Seite derjenigen, die am Rand stehen und solidarisiert sich mit ihnen.

Damit macht Jesus aus Sicht der Pharisäer einen entscheidenden Fehler. Er heilt an einem Sabbat. Sie urteilen, Jesus könne nicht im Sinne Gottes handeln, wenn er mit seiner Heilung gegen ihre religiösen Gesetze verstößt.

In der Konsequenz sind da die Pharisäer und die Jünger Jesu ganz nah beieinander. Für beide, Jünger und Pharisäer, rückt der marginalisierte Mensch in den Hintergrund und muss theologischen Konzepten weichen. Anders ist es bei Jesus, hier rückt der Mensch radikal in den Vordergrund. Von Menschen geschaffene  Barrieren werden überwunden und anstatt zu belehren, schenkt Jesus dem blinden Menschen seine Nähe und berührt ihn. Er spricht das Wort, das ihn tröstet und befreit: „Geh, wasch dich!“ Und wir können uns jetzt dazu denken, wie Jesus weitersagt:

„Und ihr anderen hört bitte endlich damit auf, ständig sündig voneinander zu denken, sondern schaut, wo ihr handeln und helfen könnt.“

Ich denke, an diesem Evangelium werden wirklich die Grundwesenszüge dieses Jesus Christus deutlich, mit dem wir gemeinsam unseren Weg gehen. Da stehen nicht Gesetze und Vorschriften im Vordergrund – er und seine Jünger waren ja notorische Fastenbrecher. Im Fokus steht für ihn die Befreiung der Blinden, Ängstlichen, Hoffnungslosen und Geplagten in unserer Mitte. Auch hier und jetzt.  Denn im Evangelium, das wage ich mich mal zu sagen, sind ja wir gemeint, wenn wir vom blinden Mann oder den Jüngern Jesu hören. Das sind immer Bilder, die uns Menschen heute spiegeln sollen. Das Evangelium ist bewusst so angelegt. Das Beispiel der Jüngerinnen und Jünger hält uns einen Spiegel vor den Kopf und passt heute noch genauso gut wie zu Lebzeiten Jesu.

Auch in den Kirchen stellen oft Debatten über Sünde, Schuld und Gesetze die Liebe Jesu und die Schwester, den Bruder in den Schatten. Diese falsche religiöse Logik, die Jesus heute im Evangelium bei seinen Jüngern und den Pharisäern vorfindet, ist ihm zutiefst suspekt. Ob sich real eine Heilung ereignet hat, ist eigentlich erstmal sekundär, es geht ja, wie Jesus selbst andeutet, um unser Gottesbild und darum, wie wir mit Menschen um uns herum umgehen, von denen wir annehmen, sie würden aus dem Raster fallen.

Jesus möchte da Nähe, ein Sich-Solidarisieren mit diesen Menschen. Menschen wie der Blinde Mann werden bei Jesus zu Sehenden. So hören wir von ihm im Evangelium ganz zum Schluss:

„Um zu richten, bin ich in diese Welt gekommen:

damit die nicht Sehenden sehen und die Sehenden blind werden.“

Die religiöse Logik wird bei Jesus umgekehrt. Wer ganz am Rand steht und sich mit Jesus auf den Weg an die Abgründe der Welt begibt und für Befreiung stark macht, wird sehend, und wer denkt, er sieht schon alles und habe mit so mancher Kategorisierung voll den Durchblick, ist für ihn blind. Harte Worte.

Die Pharisäer müssen ein sehr feines Gespür für diese Worte Jesu gehabt haben und verstanden sicher direkt, was er meinte. So heißt es im Evangelium weiter:

„Einige Pharisäer, die bei Jesus waren, hörten dies.

Und sie fragten ihn: Sind etwa auch wir blind?

Jesus sagte zu ihnen:

Wenn ihr blind wärt, hättet ihr keine Sünde.

Jetzt aber sagt ihr: Wir sehen.  Darum bleibt eure Sünde.“

Man kann sie an dieser Stelle gut nachfühlen, die Spannung, die bei dem Gespräch Jesu mit den Pharisäern – sollte es denn so stattgefunden haben – in der Luft gelegen hat. Warum diese gesetzte Provokation? Welche Botschaft wollte Jesus damit aussenden?  Und wie soll das überhaupt zusammenpassen: Blind sein und keine Sünde haben, aber schuldig sein, wenn man sieht?

Ich denke, es geht hier auch um die Haltung, mit der wir unseren Glauben angehen. Jesus hat da ganz klar einen Punkt machen wollen. Wir sollten nicht denken, dass wir Sehende sind, wenn wir Gott gezwungermaßen mit unseren menschlichen Bildern anschauen. Das versucht uns Jesus wohl heute etwas provokant-ironisch zugespitzt sagen zu wollen. Wer sich an Gott herantatstet mit dem Bewusstsein, dass er auf der Suche bleibt, hat sich nichts vorzuwerfen.

Er sagt das alles aber nicht, ohne sich gleichzeitig selbst als Helfender anzubieten.  Eben weil er uns auf unserer Suche nach Gott beistehen möchte, bringt sich selbst über Metaphern als das Licht ins Spiel, mit dem wir endlich sehen können.

„Aber ist das nicht ein Widerspruch, lieber Bruder Alexander“? Ich kann die Frage schon hören, ohne dass sie jemand ausgesprochen hat. Und sie kommt völlig zurecht! Auf der einen Seite der Verborgene Gott, auf der anderen Seite Jesus Christus, der mit Gleichnissen und in Zeichen Gottes Nähe verkündet. Wie passt das denn bitte zusammen?

Der flämische Dominikanertheologe Edward Schillebeeckx hat das mal so formuliert: „Das menschliche Antlitz Jesu Christi offenbart zwar sehr klar die Konturen Gottes, aber verfüllt im selben Moment auch Gottes Angesicht.“ Wenn wir im Evangelium vom Leben Jesu lesen, dann ist das eine Offenbarung des immer unbegreifbar größeren Gottes durch die echt menschliche, historische und damit aber auch limitierte Ausdrucksform von Jesus dem Christus. Schlillebeeckx spricht in dem Zusammenhang vom „dunklen Licht“, in dem wir uns auf Gott zubewegen.

Und vielleicht bringt das dann etwas Licht in unser Dilemma heute mit dem Sehen und Blind sein. Wir bleiben, was Gott angeht, ziemlich blind. Dazu müssen wir ja nur auf unsere Welt mit all ihren Kriegen, der Armut, dem Rassismus, dem Hass und der Ausbeutung schauen. Wie passt das schon mit dem barmherzigen Gott zusammen?

Ich denke, bei allem berechtigten Zweifel können wir trotzdem optimistisch auf Gottes Heilsgeschichte mit Israel schauen und uns gerade mit Blick auf Jesus, zusammen mit ihm, ins „dunkle Licht“ wagen, um Sehende zu werden. Auch wenn vieles verborgen bleibt, ist doch die Grundrichtung klar, wenn wir auf die Schönheit der Natur und auch heute ins Evangelium schauen. Gott meint es gut mit uns, und darüber dürfen wir uns freuen – gerade auch am Sonntag Laetare.