16. April, 2. Sonntag d. Osterzeit

 

Jetzt bin ich schon so lange Priester und habe Jahr für Jahr am ersten Sonntag nach Ostern über das Evangelium vom zweifelnden Thomas nachgedacht- und dennoch fällt mir erst jetzt etwas Merkwürdiges auf: Und das ist der merkwürdige Wunsch Thomas‘ seine Finger in die Wundmale Jesu zu legen.

 

Thomas war ja bekanntlich bei der Erscheinung des Auferstandenen nicht dabei. Er kam später und hatte dann nur von den anderen Jüngern gehört, dass Jesus mitten unter ihnen aufgetaucht war.

 

Uns erscheint  vollkommen nachvollziehbar, dass er zweifelt- so würden wir es vermutlich auch tun- und so ist uns Thomas in seiner so menschlichen Art sehr nahe.

 

Und so stelle ich mir vor, dass wenn ich an Thomas Stelle gewesen wäre, ich natürlich auch Zweifel gehabt hätte, ohne Frage. Und wenn ich ihn dann bei der nächsten Zusammenkunft gesehen hätte, wäre ich überwältigt gewesen und hätte wohl geglaubt, ja glauben müssen, dass es Jesus war und dass er auferstanden ist- schließlich sprach er mit ihnen und auch mit Thomas.

 

Auf eines wäre ich nicht gekommen an Thomas‘ Stelle- zu sagen, dass ich erst dann glauben würde, wenn ich meine Hände in seine Wunden legen könnte.

Wenn ich nicht das Mal der Nägel an seinen Händen sehe und wenn ich meinen Finger nicht in das Mal der Nägel und meine Hand nicht in seine Seite lege, glaube ich nicht.

 

Was soll das denn? Mir hätte es doch vollkommen gereicht, Jesus zu sehen, mit ihm  zu sprechen, wahrzunehmen, dass er lebt.  Wozu will Thomas denn auch noch seine Finger in die Wunden legen, seine Hand in die zerstochene Seite?

 

Wie so oft bei Johannes, von dem diese Szene aufgeschrieben wurde, ist alles wohl gesetzt, nichts Zufälliges aufgeschrieben, vieles hat einen viel tieferen Sinn als das, was man zunächst und oberflächlich erkennen kann.

 

Mir scheint, dass man diese Stelle erst richtig versteht, wenn man sie von hinten her liest. Denn nach der Begegnung Jesu mit Thomas, kommt es zu einem Bekenntnis von Thomas, das mir die Schlüsselszene dieses Kapitels zu sein scheint. Schauen wir noch einmal genauer hin:

Thomas legt  seine Finger in die Wunden und kommt dann zu der Überzeugung, dass Jesus wirklich Jesus ist, dass der  Totgeglaubte wirklich lebt.

Und so hätte er ausrufen können: Ja, es ist wirklich Jesus, meine Güte, es ist der Herr.

 

Aber nach Johannes sagt Thomas nicht nur, das ist mein Herr, sondern er sagt: Mein Herr und mein Gott!

Ein Bekenntnis.

 

Bis zu seinem Tod war Jesus für die Jünger ihr Meister, Rabbi, so nannten sie ihn, jemand, der auf vorbildlich konsequente Weise seinen Glauben an Jahwe lebte, jemand, der so vertrauensvoll mit Gott umging, dass er ihn Vater nannte, jemand, der so mit diesem Vater verbunden war, dass er sogar Wunder vollbringen konnte. Ja, all das tat und konnte er. Und dennoch:

Er war zwar ein großer Rabbi, ein Meister, ihr Herr, aber er war ein Mensch.

 

Thomas nun drückt eine neue Erkenntnis über diesen Jesus aus. Und zwar zum ersten Mal.  Nach der Auferstehung sagt er nicht nur, mein Messias, mein Rabbi, nicht nur mein Herr, sondern auch:

mein Gott.

Für Thomas ist Jesus von dem Moment an auch Gott. Was für ein Schritt, wie überwältigend-

Thomas ist ein Licht aufgegangen, dem wir bis heute als Christen folgen: Für uns ist Jesus nicht nur ein vorbildlicher Mensch, sondern eben auch Gott.

Von dem Moment der Erkenntnis des Thomas an, lasen Christen die Geschichte Jesu anders: Nicht nur war ein kleiner Mensch namens Jesus in Bethlehem geboren worden, sondern Gott;

nicht nur ein junger, idealistischer Sinnsucher war in die Wüste gezogen und den Versuchungen begegnet, sondern Gott;

nicht ein nach neuen Wegen strebender Jesus war an den Jordan gekommen, um sich von Johannes taufen zu lassen, sondern Gott. Und so war nicht nur Jesus von Nazareth gekreuzigt worden, sondern Gott.

Wenn dieser Jesus vom Tod zurückgekehrt war, dann musste er Gott sein.

Das ist die Erkenntnis der Jünger, die Thomas hier zum ersten Mal ausdrückt.

 

Und was für ein Gott das ist: Nicht derjenige, der von nun an mit himmlischer Macht schwertführend gegen die verhassten Römer vorgehen würde, keiner, der es jetzt allen so richtig zeigen würde, keiner, der mit allen Mitteln wie bei Game of Thrones den Eisernen Thron besteigen würde, um über alle sieben Königreiche zu herrschen. Dieser Gott war anders.

Er trug sogar noch seine Wunden.

 

Thomas und die anderen verehrten von nun an einen Gott, der seine Wunden trug, nicht vernarbt, nicht irgendwie verheilt, genäht oder kosmetisch versteckt, sondern offen. Man konnte seine Hände in seine Wunden legen. Die Jünger hatten den Gott gefunden, der mit seinen eigenen Wunden die Wunden aller trug.

Leibhaftig war er derjenige, der die Schmerzen, die Pein, die Demütigungen aller Menschen am eigenen Leib erfahren hatte.

All das trug dieser Gott an sich, hatte es verwandelt durch das, was wir Auferstehung nennen.

Er war nicht derjenige, der unversehrt wie in einer Ritterrüstung durch das Leben gegangen war. Gott hatte sich verletzten lassen, Gott war dem Menschen ganz nahe gekommen, ihm gleich.

 

Angesichts des unendlichen Leids, das immer wieder in dieser Welt erfahren werden muss, angesichts des Elends, angesichts der vielen Wunden, die sich Menschen immer wieder schlagen ist dieses heutige Evangelium mit einer zweifachen Botschaft versehen:

Es ist zum einen ein Trost für alle Leidenden, Verwundeten und Armen: Dieser Gott ist Euch nahe, er hat selbst Grauenvolles durchlitten;

hängt Euch an ihn, findet Trost in seinem Kreuz.

 

Und zweitens ist dieses Bild von Gott, diese revolutionäre Vorstellung von Gott eine Aufforderung an alle, die sich Jünger Christi nennen, in den Leidenden, den Verwundeten und den Armen Gott zu erkennen.

Die Wunden Jesu sind nichts, das er verstecken würde. Er zeigt sie, hält sie hin.

 

Wenn Ihr Euch in die Wunden der Armen und Leidenden vertieft, wenn Ihr Eure Finger in ihre Wunden legt, dann berührt Ihr Gott.

 

Thomas berührt die Wunden des Menschen Jesus und findet Christus, findet Gott.

 

Seitdem versuchen Christen die Welt zu verändern, mal mit mehr, mal mit weniger Erfolg; mal stellen sich ihnen andere in den Weg, mal verraten sie selbst die eigene, erlösende Botschaft. Und dennoch wird sie bis heute gehört:

Der Gott der Christen steht auf der Seite der Armen. Und genau dorthin gehören auch diejenigen, die diesem Gott der Christen folgen: Die Christen selbst.