16.10.22/ 29. So. im Jahreskreis

Man möchte gar nicht wissen, wie die heute vorgetragene erste Lesung aus dem Exodus zurzeit in Russland interpretiert würde. Was würde wohl Patriarch Kyrill daraus machen?

 

Erinnern Sie sich: Es ging in der Lesung darum, dass das Volk Israel auf seinem Weg aus Ägypten hin in das von Gott empfohlene Gelobte Land Kanaan immer wieder auf andere Völker und Stämme stieß, und diese aus dem Weg räumte- natürlich mit der Hilfe Jahwes, ihres Gottes, oder genauer auf die Empfehlung der Gottesmänner Moses und Josua hin.

 

In diesem kurzen Abschnitt wird erzählt, dass, wenn die Arme des Moses im Kampf sanken, der Feind stärker wurde, wenn sie aber erhoben blieben, Israel dem Sieg näherkam. Deswegen mussten die Arme des Moses erhoben bleiben, so dass die beiden Männer Aaron und Hur eingesetzt wurden, eben diese Arme des Moses zu stützen.

 

Magisches Verständnis und die Überzeugung, dass Gott auf der Seite des eigenen Volkes steht und den Krieg unterstützt geben sich die Hand.

 

Wenn man diese Geschichten vom auserwählten Volk, das mit Hilfe seines Gottes ein anderes Land erobert und dabei andere Stämme und Völker erbarmungslos bekämpft und niederringt einmal nicht durch die religiöse Brille liest, unsere Sozialisation als Gläubige, die gelernt haben, solche Geschichten als Beweis für die Führung Gottes interpretieren zu sollen, einmal beiseiteschiebt, kann es einem schon ein wenig schummrig werden.

 

So stelle ich mir vor, dass der Moskauer Patriarch problemlos Israel mit Russland austauschen könnte, seine eigene Nation als von Gott berufen und geschützt darstellen könnte und damit eine großartige Legitimation für den Krieg gegen die Ukraine schaffen könnte, die sich in dieser Interpretation als Volk sehen müsste, das sich dem auserwählten Volk Russland- und damit Gott- entgegenstellt und deswegen vernichtet werden müsste.

 

Viele Äußerungen Kyrills gehen in diese Richtung und die Zeiten sind noch nicht lange her, dass auch in unseren Breiten Machtansprüche und Eroberungskriege religiös verbrämt wurden. Damals sprachen die entsprechenden Machthaber in Deutschland von der Vorsehung, die sie leite und ihnen das Recht gäbe, andere Völker zu unterjochen oder gar auszulöschen. Und das eigene Volk stimmt selig ein ob seiner vermeintlichen Größe und seines Auserwähltseins.

 

Wir haben inzwischen gelernt, solche Stellen anders zu interpretieren, sie zu glätten und eher geistlich auszulegen und ihre gefährlichen Details am Rande liegen zu lassen oder zu unterschlagen.

 

Ich weiß, dass ich selbst diese Stelle oft genug als Aufruf zum Gebet ausgelegt habe. Gott ruft zum Vertrauen auf ihn auf. Bleibt im Gebet und ihr bleibt stark. Lasst nicht die Arme sinken ob Eures Schicksals, hebt sie im Gebet und Gott lässt Euch nicht im Stich.

So oder ähnlich verlaufen dann die Interpretationen und Predigten.

Heute wird mir dabei fast übel, erinnern mich solche Stellen doch nun sehr daran, welchen Schindluder man mit der Religion betreiben kann. Gott und der Glaube an ihn lassen sich für die schlimmsten Verbrechen einsetzen, wenn man alle Skrupel und alle Menschlichkeit zur Seite schiebt. Das Gewissen des zum Großen Berufenen wird nicht belastet, so lange er glauben kann, im Sinne Gottes zu handeln. Beispiele dafür gibt es genug.

 

Was also tun?

Meine Haupteinsicht bleibt: Ich kann mir und uns nicht oft genug sagen: Bleibt vorsichtig. Tut nicht so als wüsstet Ihr wirklich wie Gott ist. Bleibt zurückhaltend im Verkünden vermeintlicher Wahrheiten. Tut nicht so als hätte sich Gott Euch gegenüber offenbart, so als wäre er ein Freund, der Euch alle Seiten seines Wesens gezeigt hat.

Seid demütiger im Sprechen von Gott.

 

Für mich als Prediger ist das ein Dilemma. Jeden Sonntag erwarten Sie, dass ich Ihnen etwas von Gott erzähle, sie im Glauben stärke. Und Sie vertrauen mir in der vermeintlichen Gewissheit, dass ich, der hier vorne steht, so viel von Gott verstanden habe, mit der Autorität meines Amtes ausgestattet sagen kann, wie Gott ist.

Nein, das kann ich nicht- sicherlich nicht mit letzter Gewissheit. Wir sind alle zusammen Suchende, wenn Sie so wollen bin ich Ihr Topsucher, aber nicht derjenige, der schon weiß, was und wie von Gott zu glauben ist. Wir wünschten uns 100%ige Wahrheit und Sicherheit, aber die kann ich Ihnen nicht geben- und bei Licht betrachtet, kann Ihnen dies kein Mensch geben.

 

Einige von Ihnen haben mitbekommen, dass ich nun fast 20 Jahre bei BibelTV Menschen nach ihrem Glauben befragt habe. Am schwierigsten fand ich immer diejenigen Studiogäste, die im Brustton der Überzeugung davon erzählten wie sie mit Gott im Gebet auf Du und Du waren, wie er ihnen mitteilen ließ, wie sie wo und wann zu handeln hätten und dass sie ihn morgens um etwas baten, was er ihnen am Abend schon gewährte.

Viele haben damit Großartiges geleistet, Krankenhäuser aufgebaut, arme Menschen in vielen Ländern unterstützt, Schulen eingerichtet und waren sich nicht zu schade, die Ärmel hochzukrempeln, dort wo andere nur die Nase gerümpft hätten.

Aber dennoch wurde ich oft das Gefühl nicht los, dass diese Menschen immer in Gefahr waren ihren eigenen Willen mit dem Willen Gottes zu verwechseln.

 

Ist doch nicht schlimm, könnte man einwerfen, wenn dabei Gutes für andere herauskommt. Ja, stimmt.

 

Aber wie viele werden wohl aus der vermeintlichen Sicherheit, den Willen Gottes zu kennen, anderen Schlimmes angetan haben? Wie vielen Menschen wurde eingeredet, schlecht oder minderwertig  zu sein, weil sie jemanden liebten, der vom eigenen Geschlecht war? Wie viele Menschen mussten in Südafrika sterben nur weil sie schwarzer Hautfarbe waren und die weißen Buren sich  als Auserwählte Gottes sahen?

 

Wie viele Ukrainer müssen noch sterben, weil ein Patriarch in Moskau die Machtphantasien eines Wladimir Putin religiös verbrämt?

Wie viel Spaltung muss ein Land wie die USA ertragen, wenn religiöse Führer einen wie Donald Trump als von Gott Gesandten ausrufen?

 

Wie viele Brasilianer haben wohl jemanden wie Bolsonaro gewählt, weil ihnen von ihren religiösen Führern eingeredet wurde, dass dieser Mann den Willen Gottes ausführt, während er doch eigentlich die Wahrheit verhöhnte, Corona als leichte Grippe darstellte und in Kauf nahm, dass Abertausende durch seine Verblendung starben?

 

Seien wir vorsichtig, wenn uns jemand einreden will, zu wissen, was und wie Gott wirklich ist.

 

In Zeiten wie diesen sehnen wir uns nach Sicherheit, nach Gewissheit, nach Klarheit und nach Menschen, die uns mit Stärke und ohne Selbstzweifel vorangehen. Das sind leider oft die Gefährlichsten.

 

Sollten Sie unterbewusst oder klammheimlich so etwas von mir erwarten, kann und will ich Ihnen das nicht bieten.

Wir können uns aber immer wieder zusammen auf die Suche machen, uns gegenseitig erzählen, wo wir Erfahrungen gemacht haben, die uns gestärkt haben. Wir können zusammen immer wieder neu diesen Jesus Christus entdecken, den, von dem wir glauben, dass er einer der wenigen war, der Gott besser verstanden hat, als jeder andere. So sehr, dass wir ihn als Sohn Gottes bezeichnen.

Aber selbst dieser konnte nicht ganz auf den Grund des Seins Gottes durchdringen. Am Kreuz wurden seine Zweifel manifest: „Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“ war seine große Frage am Ende. In dem Moment war ihm nicht klar, warum er durch dieses Leid musste. Zweifel und Selbstzweifel bestimmten ihn in diesen Minuten des Todeskampfes.

 

Aber eben nicht nur. Denn sein letzter Satz war ein anderer. Der lautete: In deine Hände lege ich meinen Geist.

 

Mein Leben lege ich in deine Hände.

 

Diese Haltung Jesu empfinde ich als die anrührendste und auch erstrebenswerteste:

Gott, ich weiß nicht bis ins letzte, wer und wie du bist, aber ich gebe mich trotzdem in deine Hände.

Ich ahne und bin gewiss, dass das gute Hände sind, dass ich von dir aufgefangen werde, dass du weißt, was du tust.

 

Zweifel und Gewissheit in Kombination.

Die Zweifel bewahren mich vor zu viel Selbstgerechtigkeit und Selbstüberschätzung.

Und die Gewissheit davor, in den Zweifeln nicht unterzugehen.

 

Ob Israel gewonnen hat, weil Moses die Arme nicht lahm wurden? Ob das alles Humbug und Hybris eines Volkes war, was sich von Gott auserwählt wähnte?

Ob Jesus vom selben Gott gesprochen hat als er ihm als Eigenschaften vor allem Barmherzigkeit und Liebe zusprach?

Ich glaube ja: Gott ist immer derselbe, nur, das, was wir von ihm verstanden haben im Laufe der Geschichte, das verändert sich immer wieder, reift weiter heran, enthüllt mehr und mehr den Kern Gottes, so dass wir ihm immer näher kommen.

Aber ganz verstehen können wir ihn nie. Gott bleibt der Ewig-Nahe wie er der Ewig-Ferne bleibt.

 

Aus diesem Dilemma kommen wir nur mit Vertrauen heraus, nicht aber mit der vermeintlichen Sicherheit zu wissen, wie er ist. Diese hat schon viel zu viele ins Elend und gar in den Tod getrieben.

 

Noch einmal also:

Jesus ist vorbildlich in vielerlei Hinsicht, aber vor allem in einem:

In der Kombination von Zweifel und Gewissheit.

Die Zweifel bewahren mich vor zu viel Selbstgerechtigkeit und Selbstüberschätzung.

Und die Gewissheit davor, in den Zweifeln nicht unterzugehen.