10. März, 4. Fastensonntag

Dass ich das noch erleben darf.

Da schrieb kürzlich im Magazin der ZEIT Harald Martenstein in seiner wöchentlichen Glosse, dass er die Kinderbeichte im Rahmen der Erstkommunion befürworte- und dass er gerade in diesen Zeiten sehr froh sei, dass die kath. Kirche mit ihren zentralen Inhalten wie Nächstenliebe, Barmherzigkeit und Gnade ein Gegenbild entwirft von dem, was ansonsten in unserer Gesellschaft wichtig und entscheidend ist.

 

Endlich haben die es auch gemerkt- war das erste Gefühl, das in mir aufkam.

Seit Jahren wurden wir von bestimmten Medien in Grund und Boden geschrieben und wir konnten uns kaum dagegen wehren, weil der Missbrauchsskandal die traurigen Schwächen unserer Institution gnadenlos offenlegten, spricht nun ein Leitmedium der liberalen Gesellschaft von den Vorteilen dieser eben noch so gescholtenen Kirche; wenn auch nur in einer Glosse, aber immerhin.

Nächstenliebe, Barmherzigkeit und Gnade.

Gerade der letzte Begriff kommt zwar in unserem Sprachgebrauch noch relativ häufig vor. Dann aber eher so wie ich ihn eben selbst benutzt habe als ich vom gnadenlosen Offenlegen sprach.

 

Gottes Gnade spielt da eher selten eine Rolle. Und wenn wir jetzt miteinander ins direkte Gespräch kämen und wir uns gegenseitig erklären müssten, was denn eigentlich Gottes Gnade ist, kämen wir vermutlich zunächst mal ins Stottern. Wir würden vielleicht davon sprechen, dass Gott uns – wenn wir mal einen Fehler gemacht haben- hoffentlich gnädig ist, uns vergibt.

 

Aber bei diesem Satz kommen wir schon zu zwei Punkten, die uns an die Grenzen unseres Verständnisses bringen.

Gottes Gnade ist für uns so oft kein Thema mehr, weil wir nicht mehr existentiell von eben diesem Thema betroffen sind.

Wir können uns nicht mehr vorstellen, wie das z.B. für Martin Luther ein zentraler Punkt seiner Überlegungen sein konnte.

Wir können uns nicht vorstellen wie er während seiner Zeit als Augustinermönch von der Frage gequält wurde, wie er mit seinen Sünden vor Gott bestehen konnte?

Gott war für ihn zunächst und vor allem der gerechte Gott, der, der seinen Maßstab an jeden Menschen anlegte und dann feststellen musste, dass dieser nicht genügte.  Folge: ein Ende in der Hölle.

Im sogenannten Turmereignis Luthers, ein kurzer intensiver Moment der Erkenntnis, begreift er, dass Gott aber vor allem ein gnädiger Gott ist.

Der Mensch hat von sich aus keine Möglichkeit so zu leben, dass er Gottes absoluter Gerechtigkeit genügt. Es geht nur, wenn ihm Gott entgegenkommt, sozusagen die Augen vor der Realität des Menschen verschließt und Gnade vor Gerechtigkeit walten lässt.

Zählten unsere Werke, würden sie nie genügen, würde alles, was wir im Laufe eines Lebens so tun auf die Goldwaage gelegt, könnten wir gleich zumachen. So die Überzeugung Luthers.

Für Luther war das eine echte Erlösung. Keine Bedrohung mehr der eigenen Existenz, keine Angst mehr vor ewigen Höllenstrafen, sondern Befreiung hin zu einem erlösten Leben- das uns in dieser Hinsicht so selbstverständlich vorkommt, das wir die Fragestellung Luthers überhaupt nicht mehr nachvollziehen können. Erst daran merkt man welchen hohen Anteil die Reformatoren beim Entstehen des modernen Menschenbildes hatten.

Und der zweite Denkfehler bei uns, wenn wir über Gnade nachdenken ist der, dass wir die Gnade Gottes immer nur auf den Einzelfall beziehen. Wie eben gesagt, ich habe etwas falsch gemacht und hoffe, dass- wenn Gott in diesem Zusammenhang mir überhaupt noch in den Sinn kommt- gnädig ist.

Aber das ist nicht Gnade, sondern Barmherzigkeit. Barmherzigkeit ist, sich aus Mitleid in einer bestimmten Situation einem anderen zuzuwenden. Ich sehe jemanden in einer miesen Lebenslage, habe Mitleid und tue etwas, um diese Lage zu verbessern. Barmherzigkeit.

Gnade ist etwas anderes.

Wir glauben zwar auch, dass Gott barmherzig ist- uns also hoffentlich in schwierigen Lebenssituationen barmherzig und helfend entgegenkommt. Aber das ist etwas Punktuelles. Gnade ist grundsätzlicher. Gnade ist eine Haltung.

Luther – und damit Paulus, auf den er sich bezieht- versteht, dass Gott nicht ein wankelmütiger heute mal so, morgen mal so entscheidender Gott ist, sondern einer, der grundsätzlich gnädig ist.

Es ist die Antwort auf die denkerische Sackgasse, dass ein Mensch ständig gute Werke begehen muss, um Gottes Zuwendung zu erfahren. Erst wenn ich die 10 Gebote ständig einhalte, dann liebt mich Gott. Erst wenn ich Gott liebe und den nächsten wie mich, dann liebt mich Gott. Erst wenn ich den Kirchengeboten folge, ja dann liebt mich Gott. Völlig unmöglich. Wenn das wahr wäre, würde Gott den Menschen nie lieben. Keine Chance- da konnte man noch so viel in den Klingelbeutel der Ablasshändler schmeißen, auf diesem Weg war es nicht möglich, zu Gott zu finden, seine Liebe zu erwerben, gar zu erkaufen. Da kam das Denken an seine Grenze. Wenn Gott so wäre, wie er damals von der Kirche verkauft wurde, dann konnten Gott und Mensch nicht zusammenfinden. Gott musste anders sein- das war die Erkenntnis Luthers. Gott musste grundsätzlich anders sein, Gott musste grundsätzlich gnädig sein, dem Menschen zugewandt, ihm entgegenkommend, nicht die eigenen Maßstäbe an den Menschen anwendend. Nur dann hatte der Mensch eine Chance.

Hören Sie auf diesem Hintergrund noch einmal den Abschnitt aus dem Brief, den Paulus an die Gemeinde in Ephesus geschrieben hat und den wir eben gehört haben:

Gott, der reich ist an Erbarmen, hat uns, in seiner großen Liebe,
zusammen mit Christus lebendig gemacht.
Aus Gnade seid ihr gerettet, nicht aus eigener Kraft — Gott hat es geschenkt —,nicht aus Werken,

damit keiner sich rühmen kann

Aus Gnade seid ihr gerettet.

 

Nun fragen Sie sich vielleicht, warum ich heute so ausführlich darauf eingehe. Es gäbe doch vielleicht Wichtigeres. Denn, so habe ich es eben ja schon angedeutet:  Für uns ist das Thema, das Luther so beschäftigt hat, durch. Darüber müssen wir nicht mehr diskutieren. Wir gehen davon aus, dass Gott uns schon nicht richten wird, sondern gnädig ist. Ich würde dem gerne zustimmen, glaube es aber nicht.

Ja, wenn ich darauf schaue, dass die Fragestellung, die Luther so sehr umgetrieben hat, dass sie ihn existentiell bedroht hat und die gefundene Antwort für ihn eine echte Erlösung war, dann muss ich sagen, stimmt die Analyse. Kein Thema mehr für uns.

 

Aber wenn ich darauf schaue, wie wir leben, bin ich nicht mehr so sicher. Wir mögen zwar keine Angst mehr vor einem richtenden Gott haben, das hat uns die ewige Predigerei von der Barmherzigkeit und der unverbrüchlichen Liebe Gottes doch einigermaßen gründlich ausgetrieben. Gott sei Dank.

Aber wir wirken vermutlich nicht mehr erlöst als die Menschen im 16. Jahrhundert, die die Fragen Luthers verstehen konnten.

 

Wir müssen heute zwar nicht mehr vom Bild des drohenden Gottes befreit werden, nicht mehr von der Vorstellung, uns durch gute Werke und Ablasserwerb vom ewigen Gericht Schonung erkaufen zu können;

wir müssten aber dennoch befreit werden:  von der Angst, vom anderen nicht gut wahrgenommen zu werden, von der Sorge, den Ansprüchen nicht zu genügen, vom Gericht des moralischen Zeigefingers, der einen Menschen in den sozialen Medien und der Öffentlichkeit mit Kommentarspalten und Shitstorms vernichten kann. Wir müssen befreit werden von der Furcht, immer das richtige zu denken, zu sagen und zu tun.

Wir haben keine Angst mehr vor dem richtenden Gott, aber vor dem richtenden Mitmenschen. Gott wurde von vielen vom Thron geschubst, die sich dann selbst auf eben diesen Thron gesetzt haben. Und von Gnade und Barmherzigkeit kann bei diesen Menschen dann kaum noch die Rede sein. Menschen sind nicht gnädiger als der ewige Gott. Und auch nicht barmherziger. Der Mensch wird dem anderen eher zum Wolf als zum gnädigen Gott.

 

Für uns Christen, denen Gott noch etwas bedeutet, stellt sich zwar selten noch die Frage nach dem gnädigen Gott. Es stellt sich aber die Frage danach, inwiefern wir diese erlösende Vorstellung von einem grundsätzlich gnädigen Gott, für den ich keine guten Werke vorweisen muss, sondern bei dem es reicht, sich ihm vertrauensvoll zu öffnen, sich auf ihn einzulassen, sich ihm hinzugeben, inwiefern wir diese Vorstellung in uns wirken lassen.

Könnten wir heute Friedrich Nietzsche von der Existenz Gottes überzeugen, der bekanntlich meinte, dass er glauben könnte, wenn die Christen nur ein wenig erlöster aussähen.

 

Lassen wir die Erkenntnis, dass wir schon erlöst, geliebt und anerkannt sind, so in uns wirken, dass wir nicht durch die Mitmenschen erlöst, geliebt und anerkannt werden müssen?

Haben wir durch das, was Jesus Christus uns von Gott gesagt und vorgelebt hat, so viel Freiheit bekommen, dass wir die Angst, den anderen nicht zu genügen, fallen lassen können?

Sind wir erlöst?

Fragen, die vor der Hand kaum von Bedeutung heute sind, wo sich verständlicherweise alles um Krieg und Frieden, schwächelnde Wirtschaft und drohender Klimakatastrophe dreht. Aber unterschätzen wir uns nicht selbst. WIR sind es, die all dieses bewirken und auslösen: Krieg und Frieden, Wirtschaft und drohende Klimakatastrophe. WIR Menschen und unser Denken und Handeln sind es. Und deswegen ist es von immenser Wichtigkeit WIE wir denken und handeln. Fragen nach unserer Lebenseinstellung und Lebensdeutung sind nicht zweitrangig, sondern Grundlage unserer Welt, so wie wir sie erleben.

 

Und Christen können die Welt nicht nur mit ihrem Handeln, sondern auch mit ihrer Einstellung zum Leben verändern.

Wie hat es Hanns Dieter Hüsch, der schon verstorbene Kölner Kabarettist so schön gesagt?

Mit fester Freude lauf ich durch die Gegend (…) Mein Auge lacht und färbt sich voll mit Glück. Jesus kommt. Alles wird gut.“