3. So. im Jahreskreis 24.01.21

Andere Zeiten, andere Blickwinkel- so könnte man über diesen Abschnitt aus dem 1. Kor. schreiben.

Sie haben es gerade gehört oder gelesen:

Die Zeit ist kurz.
Daher soll, wer eine Frau hat, sich in Zukunft so verhalten, als habe er keine,
wer weint, als weine er nicht,
wer sich freut, als freue er sich nicht,
wer kauft, als würde er nicht Eigentümer,
wer sich die Welt zunutze macht, als nutze er sie nicht;

Das ist in einer Zeit geschrieben, in der die ersten Christen noch daran glaubten, dass Jesus sehr bald zurückkehren würde, um das endgültige Reich Gottes zu errichten- womöglich noch zu ihren Lebzeiten. Das hat sich, so deutlich muss man das sagen, als Irrtum herausgestellt. Da haben die ersten Christen falsch gelegen, da liegt die Bibel falsch.

Wenn man damit rechnete, dass Jesus bald zurückkäme, dann wäre eh alles egal. Dann wäre die Zeit kurz, wie es der erste Satz sagt, dann könnte man kaufen, ohne sich wie ein Eigentümer zu fühlen, weil das bald eh nicht mehr zählte und auch das Freuen und das Weinen verlören ihre Bedeutung, weil sehr bald nur noch ewige Freude und Gerechtigkeit wären. Ja wenn.

Damit wäre dieser Text erledigt, zur Seite zu legen, denn offenbar  ist Jesus seit 2.000 Jahren noch nicht zurückgekommen und aller Voraussicht nach  wird es sich vermutlich noch länger hinziehen

– oder es war anders gemeint. Eine Ausflucht, die wir  Theologen und Bibelausleger gerne nutzen.

Was aber sicher ist: Niemand weiß es, bis gegebenenfalls das Gegenteil bewiesen ist.

Und mit dieser Erkenntnis habe ich tatsächlich diesen Text in der Regel ignoriert. Alle drei Jahre kommt er durch die Leseordnung vor, alle drei Jahre lesen ich ihn, aber lasse ihn am Rande liegen.

Und in diesem Jahr? Ich lese ihn und er spricht mich an. Was ist passiert?

Andere Zeiten- andere Blickwinkel.

 

Bis vor kurzem hatten wir uns eingerichtet in unserem Leben. Wir wurden zwar manchmal daran erinnert, dass es doch leider für jeden mit dem Tod endet, aber wir hatten genügend Möglichkeiten uns durch unser angefülltes Leben um diese Erkenntnis herumzudrücken. Manchmal schlugen Einzelerlebnisse zwar ordentlich ins Kontor, mussten Menschen schreckliches durchmachen, aber der grundsätzliche Tenor des Lebens in westlichen Gesellschaften war: Es geht weiter, immer weiter, mit rasender Geschwindigkeit in eine gute Zukunft.

Das hat sich geändert: Wenn man ein Datum nennen müsste, an dem  die Verunsicherung des Westens begann, dann war das der 11. September 2001. Als die Flugzeuge in die New Yorker Hochhäuser flogen, waren nicht nur die Häuser und die USA getroffen. Da waren wir alle betroffen, unser Selbstverständnis getroffen. Wie konnte es sein, dass es Menschen, ja ganze Gesellschaften gab, die uns, den guten Westen mit seinen Idealen der Freiheit und Gerechtigkeit, seiner Liberalität und seinem Missionsglauben an Demokratie und Kapitalismus so ablehnten, dass sich Menschen berufen fühlten, solch ein Fanal anzurichten?

 

Etwas anderes lässt sich nicht mit einem Datum einkreisen: Zurückblickend zeigen  uns die Daten, dass die Klimakatastrophe wohl in den 70er Jahren erstmals messbar wurde, aber so noch nicht gedeutet wurde. Die Rufer und Mahner z.B. des Club of Rome 1972 waren einsame Rufer in der Wüste. Seit der Jahrtausendwende aber wurde das Thema immer bewusster und inzwischen ist es in unser aller Bewusstsein vorgedrungen. Es ändert sich etwas.

Als ich vor ein paar Tagen das Netz nach Infos über die Schneelage in den Ardennen durchforschte stieß ich auf Daten, die die Schneemenge in den vergangenen Jahrzehnten in Spa aufzeigten. Da gab es Jahre, bis in die späten 80er hinein, in denen um diese Jahrezeit dort mehr als ein halber Meter  Schnee lag. Das war eher die Regel als die Ausnahme.

Heute geht es auf im Hohen Venn bei Schneefall zu wie in normalen Zeiten in der Rue Neuve in der Adventszeit. Drängelnd und laut- und jede Kombination aus zwei bis drei Schneeflocken wird zum Winterwonderland erklärt.

Was wird also sein in Zukunft? Wie wirkt sich das auf unser Zusammenleben aus, wenn Weltregionen wegen Versteppung und Überhitzung unbewohnbar werden? Was wenn größere Teile der afrikanischen Bevölkerung, deren Wachstum das aller anderen Weltregionen in den nächsten Jahrzehnten allen Experten nach bei weitem übertreffen wird, versuchen werden, sich eine auskömmlichere Zukunft in Europa zu suchen? Was werden wir tun? Wie würde das unsere Gesellschaften formen? Nicht jeder Angst davor, aber Unsicherheit macht sich auf jeden Fall breit.

 

Ein weiteres: Als am 15. September 2009 Lehman Brothers in die Pleite ging und damit die größte Finanzkrise in der jüngeren Vergangenheit auslöste wurde nicht nur ein paar Experten klar, dass auch unser Wirtschafts- und Finanzsystem an Grenzen kommen könnte, das erhebliche Folgen für jeden Einzelnen hat. Sparen, Häusle bauen und vertrauen, dass die Kinder mehr und besseres haben werden als wir selbst ist spätestens seitdem keine Selbstverständlichkeit mehr für viel zu viele Menschen.

 

Und was seit dem totalen Lockdown am 13. März des vergangenen Jahres in Belgien  und überall auf der Welt geschah, muss hier nicht weiter erwähnt werden. Das liegt seitdem und vor allem in diesen dunklen Januarwochen wie eine schwere Bleidecke auf unserer aller Gemüt. Und noch immer ist nicht absehbar, wie sich das Ganze auswirken wird, welche sozialen und wirtschaftlichen Folgen das haben wird.

Und vor allem verunsichert uns, dass Experten sich sicher sind, dass das nur die erste von weiteren folgenden Pandemien gewesen sein wird.

 

Andere Zeiten- andere Blickwinkel:

Die Zeit ist kurz.
Daher soll, wer eine Frau hat,  sich in Zukunft so verhalten, als habe er keine,
wer weint, als weine er nicht,
wer sich freut, als freue er sich nicht,
wer kauft, als würde er nicht Eigentümer,
wer sich die Welt zunutze macht, als nutze er sie nicht;

 

Mussten wir nicht alle in den letzten Monaten lernen, mit der Unsicherheit umzugehen? Jede  Begegnung birgt ein Risiko, jede Planung bleibt im Dunkeln, was heute ist, weiß ich, aber was morgen sein wird? Wir wissen nur, dass es eben nicht immer nur weiter, immer schneller in eine bessere Zukunft geht.

 

Was hilft? Hoffnung hilft immer. Aber worauf? Darauf dass nun durch den Präsidentenwechsel in den USA alles wieder besser wird? Schön wäre es, aber wir wissen alles, dass das natürlich Unsinn ist. Partiell vielleicht, aber am grundsätzlichen Problem unserer Welt ändert das zunächst einmal nichts.

Nun, Christen könnten auch auf dem Hintergrund der heutigen Lesung sagen, dass sie darauf hofften, dass Jesus zurückkäme, dass das Himmelreich doch bald anbräche, schließlich ist die Bibel voll von Hinweisen darauf, dass vor dem Ende viel Schlimmes geschehen wird. Das ganze letzte Buch der Bibel, die Offenbarung- oder Apokalypse- ist doch voll davon. Aber da ist wahrscheinlich eine gewisse Skepsis angebracht, denn viel zu oft wurde auch von christlichen Sekten das Ende vorausgesagt und das verkündete Datum verstrich dennoch ohne jede Regung des Himmels, ohne dass sich dieser auftat und der Herr auf Wolken begleitet von Engeln auf Streitwagen und mit Posaunen Recht und Gerechtigkeit wiedergestellt hätte.

 

Vielleicht aber wäre es eine gute Idee, sich eine Grundhaltung anzueignen, die sich aus der heutigen Schriftlesung ergeben könnte.

Wenn ich so leben würde, als wäre die Zeit wirklich kurz, als wäre jede Bindung tatsächlich nicht eine totale Bindung, als wäre jedes Lachen nicht ein wirklich totales ewiges und als wäre jedes Weinen nicht auf immer angelegt.

Oder anders: Wie würde es sich auswirken, wenn wir uns nicht so vollkommen an dieses Leben haften würden, dass es uns als das Einzige, das allergrößte und das Wichtigste über allem Stehende vorkäme?

Was wenn wir wirklich mit etwas viel Größerem rechnen würden, das unsere Welt umgibt wie ein Mantel, etwas das in der heutigen Evangelienstelle des Markus als Reich Gottes bezeichnet wird, etwas das nahe ist, etwas, an das wir immer ganz nahe dran sind, weil es uns umgibt und wir es nur wahrnehmen müssten? Was wenn unser Welterleben nur ein Teil der ganzen Wahrheit ist, wenn dieses Leben zu diesem Zeitpunkt auf diesem Planeten nur ein ganz kleiner Ausschnitt einer viel größeren Wirklichkeit wäre?

 

Würde es uns nicht ganz anders auf unser eigenes Leben schauen lassen?

Hätte es dann immer noch dieses totale Gewicht, hätte es immer noch diese riesige Bedeutung, müsste ich dann immer noch alles, aber auch wirklich alles von diesem Leben erwarten? Oder könnte ich manches hintanstellen, manches als nicht so wichtig ansehen, könnte ich vielleicht sogar das Ich ein wenig mehr hintanstellen?

Sähe dann mein Leben, sähe das Leben der anderen, sähe die Welt dann nicht anders aus?

 

Ob es nun heute Nachmittag, in der Nacht, nächstes Jahr oder in zweitausend Jahren geschehen wird oder vielleicht nur für jeden Einzelnen bei seinem Tod: Christen dürfen darauf vertrauen, dass Christus wiederkommt- oder anders formuliert, dass wir Christus begegnen werden, dass das Reich Gottes wahr ist, auf uns zukommen wird, das wir ein Teil dessen sind und sein werden.

Für Christen ist diese Welt der Erfahrungsraum Gottes. Hier können wir ihm begegnen, wenn wir unsere Sinne dafür aufhalten. Daran ändert keine Klima-, keine Wirtschafts- und keine medizinische Krise irgendetwas. Diese Welt ist vom Reich Gottes umfasst, wie ein schützender Mantel, der mich wärmt und der mich einhüllt. In diesem Sinne ist das Reich Gottes immer nahe und die Zeit kurz. Und damit können uns Zeiten der Bedrängnis sogar zur Schule unseres Glaubens werden.

Also: Andere Zeiten- andere Blickwinkel.