3. Advent, 11.Dezember

Das ist doch völlig utopisch- das sagen wir, wenn wir eine Idee für unrealistisch halten. Klingt zwar nett, aber vergiss es.

Und eigentlich ist die Sache dann vom Tisch. Denn sie ist zu verrückt, unmöglich umzusetzen oder überfordert die eigene Phantasie oder die der anderen.

Es heißt dann nicht unbedingt, dass nicht eine heimliche Begeisterung mitschwingen könnte, nach dem Motto: Ja, das wäre wirklich toll und schön, aber –wie gesagt- das ist doch völlig utopisch!

 

Das Wort „utopisch“ kommt aus dem Griechischen: „u“ heißt „nicht“, „topos“ heißt „Ort“. Die Utopie ist ein Nicht-Ort- etwas, das es schon geben könnte, aber nicht hier,

auf dieser Welt, nicht an diesem Ort.

Es ist nicht auszuschließen, dass es diesen Ort woanders geben könnte, aber hier? Wohl nicht- und man ahnt, dass man sich dazu  vielleicht ein wenig bewegen müsste, im buchstäblichen und im übertragenen Sinne, damit aus dem Nicht-Ort ein Ort im Hier und Heute wird.

 

Die Lesung aus dem Jesajabuch beschreibt heute so einen Nicht-Ort, so eine Utopie, mit sehr konkreten Bildern und Orten. Die Steppe soll blühen, heißt es da.

Das hebräische Wort dafür haben wir alle schon einmal gehört: ARABA lautet es. Araba ist „die Steppe“ man könnte auch sagen DIE Steppe, denn der Hebräer wird dabei an die arabische Wüste gedacht haben, die sich vor allem zwischen dem Jordangraben über das Tote Meer bis an den Golf von Eilat erstreckt und sich dann in die Weiten der arabischen Halbinsel im heutigen Saudi-Arabien verliert.

„Dieser trockene Landstrich ohne nennenswerte Vegetation soll blühen wie eine Lilie?“ wird der Zuhörer gedacht haben? Dort sollen die mächtigen Zedern des regenreichen Libanon-Gebirges wachsen? Die Weinberge auf dem Karmelgebirge und das viele Obst aus der Scharon-Ebene?

Diese Landschaften Israels sind für ihre landwirtschaftliche Fruchtbarkeit bis heute bekannt. All dieses Wachstum soll also auch am Toten Meer und in der arabischen Wüste stattfinden? Haha, das ist nicht lache, wird sich der Zuhörer gedacht haben;  das ist doch völlig utopisch!

Wer Israel kennt, weiß um die großen Unterschiede in den Landschaften und der Vegetation des Landes- kennt das mediterrane Lebensgefühl im Norden und um den See Genezareth herum, aber auch das Bizarre und manchmal bedrohlich wirkende wüstenhafte im Bereich des Toten Meeres. Jesajas Text soll genau diesen Eindruck erwecken: dass es  einfach nicht geht, dass da etwas wachsen wird, jedenfalls nicht auf natürlichem Wege- denn von den Bewässerungsmöglichkeiten der Moderne war man damals natürlich noch meilenweit entfernt.

 

Und dennoch, die Utopie geht sogar noch einen Schritt weiter, nun in die völlige Unmöglichkeit hinein:  Die Augen der Blinden werden geöffnet, die Ohren der Tauben sind wieder offen, der Lahme springt wie ein Hirsch, die Zunge des Stummen jubelt laut.

Man könnte fragen:  Warum quält uns die Bibel mit einer Bilderwelt, die nicht Wirklichkeit werden kann? Was soll das? Illusionen, die noch weher tun, wenn man –wie nach einem Rausch- wieder auf dem Hosenboden der Realität ankommt?

 

Wohl, weil sie uns genau da packen will.

Wir sind einfach zu schnell darin etwas als utopisch zu deklarieren. Das hat es noch nie gegeben, das kann nicht sein- lass mich damit in Ruhe.

Lass mich damit in  Ruhe- ist wohl der Kern der Sache.  Wir ahnen vielleicht, dass wir noch nicht alles ausprobiert haben, noch nicht alles versucht haben, noch nicht genügend Phantasie und guten Willen aufgebracht haben, aber das würde uns eben verändern, unsere Gewohnheiten und Lebensumstände.

Lass mich also lieber in Ruhe.

Der Glaube an Gott, so lässt sich die heutige biblische Botschaft aus dem Jesajabuch mit anderen Worten beschreiben, findet sich nicht mit dem Vorfindlichen ab. Da ist noch mehr drin, da ist noch Luft nach oben – solche Redensarten verwenden wir heute, wenn wir ausdrücken wollen, dass noch nicht alle Optionen ausgereizt sind, noch nicht alle Lösungsmöglichkeiten ausprobiert wurden.

Genau darum geht es in der heutigen Bibelstelle: Der Prophet ist davon überzeugt,  dass die Grenzen dieser Welt nicht Gottes Grenzen sind und dass demjenigen, der sich auf Gott einlässt mehr möglich ist als wir uns vorstellen wollen.

Der biblische Text will uns also nicht mit unmöglichen Bildern und leeren Hoffnungen quälen, sondern unseren Horizont erweitern. Daher fügt er den  utopischen Vorstellungen von einer blühenden Wüste und sehenden Blinden, noch etwas hinzu:  „Habt Mut, fürchtet euch nicht. Gott wird kommen und euch erretten. Macht die erschlafften Hände wieder stark und die wankenden Knie wieder fest!“

Nicht die erschlafften Hände von irgendjemandem, nicht die wankenden Knie von weiß der Himmel wem, sondern Deine erschlafften Hände, Deine wankenden Knie.

Und dann weiter: „Die Rache Gottes wird kommen und seine Vergeltung“– Auch das ein Hoffnungswort: denn das Wort „Rache Gottes“ darf hier  nicht missverstanden werden: es geht nicht um ein blindwütiges Dreinschlagen, wie wir wohl meist Rache verstehen würden, sondern mit Rache meint die Bibel immer die Wiederherstellung gerechter Verhältnisse.

Gott wird kommen und dann werden die Armen nicht mehr ausgebeutet und die Benachteiligten kommen nicht mehr   unter die Räder, sondern es wird endlich gerecht zugehen in dieser Welt.

 

Und wieder: Ist das nicht völlig utopisch? Ja, ja sicher.

Es ist das Thema aller bisherigen Adventssonntage: Wir hören es in jedem Advent, werden es auch in 2023 und 2024 und viele Jahre danach wieder hören.

Es geht in das eine Ohr hinein, regt ein wenig unsere Hoffnung an, aber ist dann schnell aus dem anderen Ohr wieder heraus. Es scheint eine zu große Herausforderung für unseren Glauben zu sein;

die Grenzen unserer Vorstellungskraft und unseres an der Realität abgestumpften Denkens sind nahezu unüberwindbar. Wie erst aber können wir dann das völlig Unmögliche auch nur annähernd erfassen, das, was an Weihnachten auf uns zukommt, nämlich, dass Gott Mensch wird.

Noch utopischer als die heutige Lesung!- Dennoch will ich nicht aufhören zu glauben, dass es lohnen würde, unsere Vorstellungskraft auszudehnen, mir und Gott mehr zuzutrauen.

Ich will nicht aufhören daran zu glauben, dass Gott mir die Augen öffnen kann, um die größeren Möglichkeiten im Alltag zu sehen;

ich will glauben, dass mir mehr möglich ist als nur das zu hören, was ich hören will.

Ich will vertrauen, dass ich mich bewegen kann,  wo ich im alten Trott erstarrt bin, reden kann, den Mund aufmachen kann, wo ich bisher stumm geblieben bin.

Dinge werden möglich, die wir viel zu schnell als utopisch abtun, wenn wir uns öffnen, uns und Gott etwas zutrauen. Wir müssten werden wie die Kinder, grundoffen vertrauend, ohne die erstarrten Vorprägungen und Desillusionen, die uns beherrschen, lähmen, taub und blind gemacht haben.

Es mag wie naives Vorgaukeln klingen, wie dem Nachrennen hinter einer Fiebervision. Aber es ist allemal besser als sich der Mutlosigkeit hinzugeben, die einen angesichts der düsteren Welt erfassen könnte, die einem aus den Nachrichten entgegenkommt. Allemal besser auf die Zukunft zu setzen, auch wenn viel zu viele glauben, das lohne nicht. Gerecht zu bleiben, auch wenn so viele anderen meinen, ungerechtes Handeln bringe ihnen mehr; anständig zu bleiben, auch wenn die anderen nur den eigenen Vorteil suchen; Notlagen anderer nach Kräften beseitigen und nicht auszunutzen.

Immer wieder können das konkrete Schritte hin zu einer Wirklichkeit sein, die nicht mehr ganz so sehr nach Utopie klingt wie zuvor.

–Habt Mut! Fürchtet euch nicht. Wie so oft, ist das DER zentrale Satz des Glaubens. Darum geht es. Besiegt die Angst, die Angst, etwas zu verlieren, an Ansehen, an Kraft, an Vermögen, die Angst, zu kurz zu kommen, die Angst, zu den Verlierern zu gehören, die Angst um  Eure Existenz: Ihr lebt, jetzt in dieser Welt, eines Tages in der anderen. Ihr lebt, immer, ewig. Ihr braucht keine Angst zu haben. Deswegen könnt ihr Mut haben, weil euch im Grundsatz nichts, aber auch gar nichts bedrohen kann. Die Höhen und Tiefen des Lebens gehören, manchmal süß, manchmal sehr bitter zum Leben dazu, aber sie können das, was Ihr im Kern seid, nämlich ewige Geschöpfe Gottes, Teil von ihm, nicht zerstören, niemals.

Utopisch? Ja für den, der nichts für möglich halten kann, was wissenschaftlicher Beweisbarkeit entzogen ist;

aber die eigene und die ganze Welt grundumstürzend verändernd für den, der es nicht einfach abtut, abgeklärt im Mülleimer entsorgt.

Im Advent bereiten wir uns auf die Geburt dessen  vor, der einer der größten Utopisten in der Geschichte war. Nichts von dem, was er bewegt hat, zeichnete sich am Tag seiner Geburt ab. Und dennoch haben seine Ideen unzählige Menschen immer wieder neu erfasst, seit 2 Jahrtausenden sind seine Visionen lebendig, ist er lebendig. Völlig utopisch als er im Stall von Bethlehem geboren wurde. Verrückt, was aus jemandem werden kann, der sich GANZ Gott öffnet.