1. Advent, 27. November

 

Merkwürdig, dass unsere Traditionen zum Advent und die gehörten Schriftlesungen oft so wenig zusammenpassen.

Hier die warmen Kerzenlichter, dort die manchmal schroffen Texte vom Weltuntergang.

Hier die sehnsüchtigen Lieder, dort die Ermahnungen zur Entscheidung.

 

Bei Matthäus, den wir gerade gehört haben geht es dabei darum, wachsam zu bleiben, wenn der Tag kommt;

in anderen Evangelien gibt es gewaltige Zeichen für den Untergang: Mond, Sonne, Sterne fallen vom Himmel, Fluten kommen über die Erde, Kriege und Hungersnöte. Apokalypse pur-

und wir singen dazu im warmen Kerzenschein.

 

Vier Wochen lang also Texte von der Entscheidung, von der Umsetzung des Gottesreiches, danach das schönste Fest des Jahres. Alles wird gut, am Ende also Friede, Freude, Eierkuchen oder besser: Gänsebraten.

 

Nun, in der Zeit als diese Erzählungen aufgeschrieben wurden, wurden die Texte vermutlich gar nicht so bedrohlich aufgefasst wie wir sie heute empfinden.

Denn als christliche Urgemeinschaft war man ja nicht  in dieser privilegierten und bequemen Position, in der wir uns heute zumindest hier in Westeuropa noch befinden.

Für viele war es wünschenswert, dass genau diese Welt unterging, eine gerechtere Gesellschaft entstand, in der andere Gesetze herrschen würden als die oft brutalen, menschengemachten. Auch wenn sich inzwischen mehr und mehr Stimmen vernehmen lassen, die das Ende UNSERER Gesellschaftsform wünschen, fordern oder erwarten, ist es noch nicht breiter Konsens.

Maranatha- Gott komm doch endlich, damit dieser Mist ein Ende hat. So darf man sich das in der frühen Christengemeinde wohl vorstellen.

 

Und heute? Würden wir das wollen? Gottes Reich? Ernst genommen, würde es alles bei uns ändern, alles auf den Kopf stellen, nichts bliebe wie es ist.

 

Wir haben doch unsere Gewohnheiten, wir haben uns eingerichtet. Da will man keine Störungen, selbst wenn man sieht, dass die Welt ungerecht und unfriedlich ist und aller Voraussicht nach, es nicht so weitergehen kann wie bisher.

Wir bringen doch ehrlich gesagt lieber unsere eigenen Schäfchen ins Trockene als für das Reich Gottes alle Schäfchen sozusagen mit einzubeziehen. Da halten wir uns doch lieber ruhig, bevor die Ordnung gänzlich verschwindet, die es uns doch ganz bequem gemacht hat.

 

Aber was dann mit den Ankündigungen Jesu machen? Sein letztes Wort an uns ist das eben gehörte. Bevor es in seine Leidenszeit nach Jerusalem ging, sagte er zu den Jüngern: Wachet. Bleibt wachsam!

 

Worte, die die frühen Gemeinden aufgegriffen haben. Sie haben mit dem Untergang gerechnet. Ihn für notwendig gehalten. Sie erfuhren selbst Ungerechtigkeit und wussten noch gut, dass Jesus ihnen einen fundamentalen Wechsel, einen notwendigen Wechsel versprochen hatte.

Und ist das so verkehrt gewesen?

Könnte es nicht tatsächlich so sein, dass alles, in was wir uns eingerichtet haben zugrunde gehen muss, ehe Gott ankommen kann? Muss das, was unsere Lebensweise auch in unserem Seelenleben verursacht nicht erst untergehen, bevor Platz für ihn ist?

 

Die Welt, so wie wir sie kennen, gründet sich doch genau auf die ehernen Pfeiler, an denen Jesus rütteln wollte.

Wir sind nur zu sehr im Dunstkreis des Gewohnten eingeschlossen als dass wir wagen würden, die Fragestellung des Evangeliums radikal genug zu nehmen.

Jesus stellt in Frage, dass die Welt menschlich ist, so wie sie ist, zu seiner Zeit nicht anders als zu unserer. Und damit stellt er UNS in Frage.

 

Einer der ehernen Pfeiler unserer Denk- und Lebensweise ist die Selbstverständlichkeit, mit der wir akzeptieren- nur um EIN Beispiel zu nennen- dass in unserer Gesellschaft Geld die Welt regiert. Und dafür muss man nicht nur auf die FIFA schauen.

Ich ahne schon den Widerspruch. Und dennoch:

Totale Ökonomisierung, bis hinein in menschliche Beziehungen: Lohnt sich das? Was bringt mir das?

Welchen Wert hat für mich dieser Kontakt, wie wird mich jener weiterbringen?

Wie stelle ich mich möglichst optimal dar, auch auf sozialen Netzwerken, um dies und das zu erreichen?

 

Wir würden gerne widersprechen, alles sperrt sich in einem und wir finden sicher auch einiges an Gegenbeispielen. Aber es geht um eine Tendenz, eine vorherrschende Richtung.

Wir glauben an Gott, sicherlich, und wir sind seit anderthalb Jahrtausenden Christen in Europa.

Aber merkwürdig ist doch schon, dass, wo immer ein Kulturkreis während dieser Jahrhunderte mit Europa in Berührung gekommen ist, er wenig von Gott gelernt aber ziemlich viel von krassem Materialismus. Das Lateinamerika unter den Eroberungen der Spanier und Portugiesen, das Afrika unter den Briten, Franzosen und in ein paar kleineren Ecken unter den Deutschen, menschenverachtend gegenüber den Herreros in Namibia, ebenso wie die Belgier im Kongo.

Aus dem christlichen Abendland wurde nicht in erster Linie die Wahrheit Gottes exportiert, sondern an viel zu vielen Orten die Wahrheit des Geldes, die Menschen und Umwelt zerstört hat.

 

Der andere Pfeiler, an dem wir uns so gerne halten, ist die Sicherheit durch Macht und Stärke- und auf Europa bezogen scheint so vieles auch dafür zu sprechen, und nicht anders zu gehen. Die Erfahrung des Überfalls Russlands auf die Ukraine bestätigt dies nur. Dem Starken kann man nichts. Wer wehrhaft ist, dem geht es gut. Und wer es nicht ist, der wird es so schnell wie möglich mit Sondervermögen und 100-Milliardenprogrammen versuchen. Und so stimmen wir alle mit mehr oder weniger Überzeugung in das Lied der Balten ein, die dieses schon länger gesungen haben.

Bitte, NATO stehe uns bei gegen die Bedrohung aus dem Osten. Vollkommen nachvollziehbar, richtig und vermutlich die bessere Alternative als sich ungeschützt dem Russland Putins gegenüber zu sehen.

Aber wir neigen dazu, diese Haltung als alternativlos darzustellen.

Sie ist es realpolitisch vermutlich sogar, aber das darf uns als Christen doch nicht den Blick dafür verdunkeln, dass das immer noch nur die vorletzte Lösung ist. Es ist noch nicht ideal- ganz sicher nicht Gottes Reich;

wir dürfen nicht aufgeben für die Veränderung der Menschen Einsatz zu zeigen, dass so etwas eines Tages eben nicht mehr nötig sein wird.

Man kann das heute im AT gehörte Schwerter zu Pflugscharen für Träumerei halten;

aber dann hat man sich der Welt wie sie ist schon hingegeben und den Glauben an die verändernde Kraft Christi schon aufgegeben.

 

Denn es bleibt doch eine Tatsache, dass die Welt nach unseren Regeln gesteuert oft genug- und auch in diesem Jahr immer wieder, wie ein Betrunkener am Abgrund entlangläuft.

Wir halten es für ganz normal, für unvermeidbar.

So ist die Welt eben, auf Angstverbreitung und Drohung aufgebaut. Wir nennen es dann Verantwortung, politische Vernunft.

Nach einer kurzen Phase der Entspannung nach dem Ende des kalten Krieges geht es wieder zurück. Scheinbar unvermeidbar muss wieder für mehr Sicherheit gesorgt werden, müssen sich alle wieder verschanzen gegen alle möglichen Gefahren, sich einmauern, abgrenzen und verbarrikadieren.

So ist eben die Welt, sagen wir dann. Und haben vermutlich recht.

Ich weiß auch nicht wie man mit der Reich-Gottes-Idee Russland in die Schranken verweisen könnte. Einen Putin hält man damit nicht auf.

Ich will aber nicht aufhören, daran zu glauben, dass es Alternativen geben könnte oder dass wir zumindest Krieg und Aufrüstung nicht als ein so selbstverständliches Mittel ansehen, dass wir gar aufhörten, über andere Wege zumindest nachzudenken.

Als Christ muss man in dieser Welt wohl konstatieren, dass das Reich Gottes noch gar nicht kommen kann; es ist noch nicht an der Zeit, heute noch nicht; wir sind nicht dazu bereit- trotz aller Beschwörungen durch „Macht hoch die Tür“, „Nun komm der Heiden Heiland“ und „Tauet Himmel den Gerechten“.

Die Kraft des Faktischen, die Macht der Gewohnheit, die üblichen Denkweisen sind einfach zu stark und wir zu schwach.

 

Das klingt manchem sicherlich zu düster, zu pessimistisch. Aber es bleibt doch eine große Frage, warum Jesus das Weltgericht, den Untergang des Gewohnten, den Anfang des Reiches Gottes angekündigt hat und nichts seitdem passiert ist.

Wenn wir darauf warten, dass das Reich Gottes kommt ohne, dass WIR etwas ändern müssen, ohne dass WIR uns ändern, der kann noch ewig warten.

 

Es geht bis an die Anfänge der Botschaft Jesu zurück, wenn er sagte, dass Gott denen nahe ist, die Hunger haben, die Leid erfahren, die Sehnsucht kennen, die sich NICHT einrichten, die NICHT zufrieden sind mit dem Bestehenden, die den Mut haben, etwas zu erwarten, das es noch nie gab. Denen nahe ist, die eine ANDERE Welt ersehnen.

 

Dies offensichtlich ist es, was Jesus mit seinen letzten Worten vor der Leidensgeschichte, hier bei Mt. Im 24. Kapitel sagen wollte:

 

Seid wachsam, sagt Jesus. Hört auf, so könnte man es interpretieren, euch zu beruhigen: Die Welt steht nicht zum Besten, nichts Neues also, aber zieht daraus doch endlich die Konsequenz: Wie man Euch beigebracht hat, dass man leben müsste, wird wahrscheinlich nicht stimmen.

Eine Änderung in so vielem ist das, was uns am meisten nottut.

Den Zusammensturz von vielem, das man uns als heilig vor Augen gestellt hat, werden wir lernen, bejahen und betreiben müssen, ehe wir Gott tiefer in unseren Herzen spüren, ihm dankbarer huldigen, ihm frömmer begegnen, ihn menschlicher glauben können.

 

Der milde Kerzenschein, die sehnsüchtigen Lieder, die hübsche Atmosphäre sollen uns nicht einlullen, sondern erinnern, anspornen, Kraft dazu geben über jeden Keim der Hoffnung zu wachen, denn: Seid wachsam.