29. Oktober, 30. Sonntag im Jahreskreis

Die Predigt wurde gehalten von Br. Alexander Maly OP

 

 

Lieber Schwestern, liebe Brüder,

der Text aus dem Buch Exodus, den wir heute in der ersten Lesung gehört haben, fordert uns heraus. Er ist Teil des Bundesbuches, und wie schon der Name verrät, geht es um  die Beziehung, den Bund zwischen dem Volk Israel und Adonai, seinem Gott. Aber bevor Adonai den Bund schließt, legt er Israel seine Gebote vor und gibt dem Bund einen Rechtsrahmen. Was sich so starr anhört, beschreibt der Bibeltext in sehr bildhafter Sprache. Hier spricht Adonai:

„Wenn Du die Witwe oder Waise ausnutzt, werde ich Ihren Klageschrei hören!“

Wenn Menschen voll Klage und Entsetzen schreien, kann Gott das hören und ist ganz nah. Gott ist also nah und menschenfreundlich, soweit unser Stand. Aber gleich der nächste Satz im Text macht mich dann so richtig sprachlos, und vielleicht auch Sie. Für die Menschen, scheitern und unbarmherzig handeln – und haben wir das nicht alle schon mal getan -, gibt es demnach keine Barmherzigkeit.

„Mein Zorn wird über (diese Menschen) entbrennen und ich werde (sie) mit dem Schwert umbringen, sodass ihre Frauen zu Witwen und (ihre) Töchter und Söhne zu Waisen werden.“

Adonai, der Barmherzige, erscheint hier als ein Rächer, der die Menschen umbringt, die sich nicht an seine Weisungen halten. Auf der anderen Seite ist der gütige, barmherzige Gott, der besonders bei den Schwachen ist und Nähe zeigt. Wie lösen wir das auf? Vielleicht handelt es sich hier um eine Hyperbel, eine bewusste Übertreibung, mit der die Verfasser:innen des Textes überdeutlich machen wollen, wie ernst es Gott mit den Geboten ist, und wie bedingungslos er auf der Seite der Benachteiligten steht. Vielleicht ist es aber auch genau so gemeint, wie wir es im Text lesen, und spiegelt die eigene Leidensgeschichte der Verfasserin oder des Verfassers wider. Das Verlangen danach, von Gott Gerechtigkeit zu erfahren; Gerechtigkeit, ohne die man nur schwer Frieden finden kann. Diese Emotionen, dieser Schrei nach Gerechtigkeit, den ich dem Text aus dem Buch Exodus heute entnehme, ist sicher auch Ausdruck der Strapazen Israels inmitten von Kriegen, Katastrophen und Verfolgung. Dieses lebendige Ringen um den Glauben und Gerechtigkeit spiegelt uns das erste Testament ganz ungefiltert. Wir haben es hier mit (inspirierten) Erfahrungsberichten zu tun, deswegen denke ich nicht, dass man dem ersten Testament das Gottesbild eines Rachegottes unterstellen kann. Aber vielleicht denken sich viele von uns noch etwas ganz anderes. Ganz bestimmt sogar! „Lieber Bruder Alexander, das ist doch das Alte Testament, dass jetzt die ganze Zeit im Gespräch war. Es gibt doch noch ein Neues, und da ist Gott viel Barmherziger – vorbei ist es da mit dem Rachegott!“

Liebe Schwestern, liebe Brüder, mir ist es immer sehr sympathisch, wenn glaubende Menschen den revolutionären Geist Jesu betonen, der zweifelsohne durch die Evangelien schimmert. Jesus als Revolutionär, der radikal mit überkommenden Traditionen bricht und endlich mal aufräumt mit den vielen Ungerechtigkeiten, die uns auch heute noch oft in religiösen Institutionen begegnen. Aber so sollten und dürfen wir das nicht stehen lassen, denn sonst fallen wir, so meine ich, in eine Haltung hinein, die von der Bibelwissenschaft als Substitutions – oder Ablösungstheorie beschrieben wird. Damit ist die Vorstellung gemeint, dass mit Jesus und der Kirche  Israel und das erste Testament überholt sind oder gar nichtig geworden sind. Doch alles, was Jesus betete, fühlte, dachte, liebte und tat, das betete, fühlte, dachte, liebte und tat  er als Jude! Und einige Exegeten meinen, dass Jesus mit seinen Jüngerinnen und Jüngern wohl von allen jüdischen Gruppen den Pharisäern am nächsten gewesen sein muss. Tatsächlich gibt es Passagen im Evangelium, die auf eine Ablösung Israels durch die junge Kirche hindeuten. Barmherzig ist der der Samariter, ein Nicht-Jude, während uns das jüdische Establishment auch im heutigen Evangelium wieder sehr unbarmherzig und zynisch dargestellt wird. Viele Antisemitismusforscher:innen meinen, in solchen christlichen Deutungen eine der Quellen zu sehen, aus der sich auch der neuzeitliche Antisemitismus speist. Sollten sie recht haben, wären das  Christentum und der Antisemitismus eine nicht zu trennende Einheit. Dann gibt es auf der anderen Seite Christinnen und Christen die meinen, der neuzeitliche Antisemitismus beruht auf Pseudowissenschaft und neo-heidnischen Vorstellungen. Zwischen dem Christentum und dem Antisemitismus gäbe es demnach keine Verbindung. Und wenn, dann hätte es von christlicher Seite nur Antijudaismus, jedoch keinen Antisemitismus gegeben. Doch gibt uns hier nicht auch die Liturgie zu denken, wie wir sie heute als katholische Christ:innen feiern: für die Lesung aus der hebräischen Bibel sitzen wir, während wir für das Evangelium aufstehen. Klar ist aber auch, dass ein Dialog zwischen Judentum und Christentum von beiden Haltungen unmöglich gemacht wird. Wenn das Christentum per se antisemitisch ist, in all seinen Formen (- eigentlich müssen wir ja von Christentümern sprechen), dann können wir es nur noch abschaffen. Das entbehrt natürlich jeder Grundlage, und in vielen Gemeinden wird Jüdisch-Christlicher Dialog nicht nur angesprochen, sondern ganz vorbildlich gelebt. Wenn Christinnen und Christen aber per se das Christentum von jedweder antisemitischer Vergangenheit und Gegenwart reinwaschen wollen, wird Dialog mit dem Judentum unmöglich, das spiegeln uns unsere jüdischen Gesprächspartner:innen. Auch ein Blick ins Geschichtsbuch reicht, um zu sehen, dass es christlich motivierten Antisemitismus gab und gibt. Wie sollen wir heute als Kirche damit umgehen? Die Antwort auf diese Frage kenne ich auch nicht. Aber wir wären gut damit beraten, Jesus zunächst als Juden zu sehen, der fest in jüdischer Glaubens- und Lebenspraxis stand. Insofern, liebe Schwestern und Brüder, kann es helfen, die bildgewaltige Sprache und die starken Emotionen aus dem Exodusbuch heute erst einmal für sich stehen lassen, ohne sie gleich durch einen dann viel barmherzigeren Gott des Christentums ersetzen zu wollen.

Wagen wir jetzt auch den Blick in das Evangelium vom Sonntag!

Hier hören wir heute: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben – das ist das wichtigste und erste Gebot. Ebenso wichtig ist das zweite: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“

Das Gebot der Gottes – und Nächstenliebe ist also das wichtigste, und alle anderen Gebote sind ohne dieses undenkbar. Die Vorstellung von Nächstenliebe hier ist untrennbar mit dem Glauben daran verbunden, dass uns Gott und seine Liebe in der Begegnung mit unseren Mitmenschen ganz nah sind. Im Umkehrschluss können wir dann Gott gar nicht mehr lieben, wenn wir nicht die Menschen lieben. Wer der Nächste – oder die Nächste – ist, zeigt in der Tat auch besonders das Gleichnis vom barmherzigen Samariter gezeigt. Aber ganz bestimmt gab es eben nicht nur barmherzige Samariter, sondern auch liebende Pharisäer, Sadduzäer und Schriftgelehrte.

Lenken wir unseren Blick zurück auf das Evangelium. Spannend ist heute wohl besonders das „dich selbst“ in „liebe deinen Nächsten wie dich selbst“. Das sieht beinahe nach einem dritten Gebot aus, von dem Jesus hier spricht! Liebe Gott, deinen Nächsten und ich selbst. „Das klingt ja total selbstverliebt“, mögen einige meinen. Sich selbst lieben, ist das nicht völlig egozentrisch, darf man das überhaupt? Ja, liebe Schwestern und Brüder, das dürfen wir nicht nur, sondern wir sollten das auch. Und zwar mit Hingabe. Vielleicht ist das die wichtigste Erkenntnis, die wir heute mit in den Sonntag nehmen können. Gottes Bund steht, darauf können wir uns verlassen. Er ist mit seiner Schöpfung, allen von uns, und zwar bedingungslos. Es liegt aber auch an uns, ob wir eine Haltung der Liebe kultivieren wollen. Vielleicht zeigt das der Blick auf die großen Traditionen des Ostens, auf den Buddhismus, Daoismus und andere Strömungen. Ohne zielstrebige Selbstannahme, ein gutes Gefühl für das Selbst und dieses von Jesus Christus erwähnte „sich selbst lieben können“, werden wir anderen Menschen wohl nur verstockt und verhärtet begegnen können. Ich schlage deswegen vor, dass wir uns heute ganz besonders über eines Gedanken machen sollten: Was können wir uns an diesem Sonntag konkret Gutes tun?