2. März, Aschermittwoch

Bis vor zwei Jahren habe ich die Fastenzeit oft eingeleitet mir Sätzen wie: Die österliche Bußzeit ist e¬¬¬¬ine Zeit des Innehaltens und des Sich-Konzentrieren-auf-das-Wesentliche.
Das war damals sicherlich auch richtig, waren doch die meisten von uns in der Regel damit beschäftigt, ihr geschäftiges Leben zu managen, bestehend aus Arbeiten, Kinder versorgen, Kurztrips an verlängerten Wochenenden und ausgiebige Ferien im Sommer, an Weihnachten und um Ostern herum. Dazu jagte ein Event das nächste und es war sinnvoll, mal für 40 Tage zu versuchen, den Blick nach innen zu richten. Nicht umsonst haben wir damals Jahr für Jahr in der Fastenzeit die Vorhänge vor die Fenster gehängt, um eben nicht vom Außen abgelenkt zu werden und uns auf unser Seelenleben konzentrieren zu können.

Wie anders doch heute: Durch Corona waren wir viel zu oft dazu gezwungen, innezuhalten, lange genug wurden wir auch im wörtlichen Sinne innengehalten, Events gab es keine und die allermeisten hätten viel dafür gegeben, wenn das Leben so weitergegangen wäre wie es vor dem Frühjahr 2020 war.
Und heute stehen wir da und viele würden manches dafür geben, wenn sie wiederum in der Situation von 2020 wären, damals als es noch sehr unwahrscheinlich war, dass in Europa in absehbarer Zeit je wieder ein Angriffskrieg geführt werden würde, der seit Donnerstag wie ein dunkler Schatten über unserer aller Köpfe schwebt.
So schnell können sich Zeiten ändern.

Der entspannte Blick nach innen, das Konzentrieren auf Fasten und seelische Gesundheit kommen uns heute wie Luxus vor, etwas, was man tun kann, wenn man sonst keine anderen Sorgen hat.
Die haben wir aber nun. Und wie auf so vieles, fällt damit auch ein anderer Blick auf die Fastenzeit.
Wozu ist sie gut, wozu könnte sie dienen?

Nun, in manchen Gegenden wird die Fastenzeit auch Passionszeit genannt. Auch in der evangelischen Kirche wird sie so bezeichnet und lenkt damit den Blick weg von individuellen Handlungen des Gläubigen, wie dem Fasten hin auf die Passion, zunächst auf die Passion Jesu Christi, ist sie doch die Vorbereitungszeit auf die Kartage und auf Ostern.

Aber Passion bedeutet ja bekanntlich „Leid“- damit weitet dieses Wort den Blick weit über die Passion Jesu hinaus, nämlich auf das Leid an sich, das viele Menschen immer wieder durchleben müssen.
Als wir uns vor Wochen entschlossen hatten, die kleine katholische Gemeinde auf Lesbos darum zu bitten, uns Fotos von Flüchtlingen zu schicken, um die sie sich kümmern, um darauf ein Hungertuch mit dem Antlitz Jesu zu gestalten, war der Gedanke dahinter, den Blick auf das Leid der Menschen zu richten.
Im Leid des Menschen entdecken wir das Antlitz Gottes. Im Leidenden begegnen wir Jesus Christus. Denn das, war Ihr dem geringsten Eurer Brüder getan habt, das habt Ihr mir getan.

Aus diesem Satz Jesu aus dem 25. Kapitel des Matthäusevangeliums ergibt sich die ganze christliche Ethik, Leidenden zur Seite zu stehen. Und so wurden christliche Gemeinschaften zu den ersten, die sich zumindest in unserem Kulturraum um Kranke und Arme kümmerten.
Denn in ihnen begegnet der Gläubige Christus selbst.
Ein Satz, der in unserer Wohlfühlfrömmigkeit, die mit Fasten und Verzicht für 40 Tage mehr auf die eigene Wellness zielte als auf andere Menschen, fast zu vergessen drohte.

Nein, wir richten in diesem Jahr nicht den Blick nach innen oder nur bis zur Kilogrammanzeige der Personenwaage, sondern über den eigenen Rand hinaus.
Wir haben in den letzten Jahren deutlich lernen müssen, dass uns die ganze Welt etwas angeht, weil wir alle miteinander vernetzt sind. Das Virus hat uns auf unangenehme Weise klar gemacht, dass wir alleine nicht weit kommen.
Und seit Donnerstag haben wir nun ein weiteres Ereignis direkt vor der Nase, das uns deutlich macht, dass wir nicht isoliert auf einer Insel leben, bei der uns der Rest der Welt nicht interessiert, sondern dass uns der Überfall Russlands auf die Ukraine ganz direkt etwas angeht, weil sehr schnell klar wurde und weiter klar werden wird, dass wir davon nicht unberührt bleiben werden. Und das meine ich zunächst äußerlich. Alles, was in Folge des Krieges nun in vielen Ländern beschlossen wurde, wird auch direkte Folgen für unser eigenes Leben haben.
Dass aber viele auch innerlich davon berührt sind, zeigen die vielen Zeichen der Solidarität, aber auch der konkreten Nachfrage von Menschen auch bei mir, wie sie denn nun helfen können.

Um Mitleid mit anderen Menschen zu haben, muss man nicht Christ sein. Mitleid ist reines menschliches Empfinden. Eine wunderbare Eigenschaft, die uns auszeichnet, genauso wie leider auch die negativen wie Hass und die Gewalt, die ebenso menschliche Eigenschaften sind.

In unserem Glauben ist Mitleid aber nicht nur eine edle menschliche Empfindung, sondern ethische Verpflichtung. Im Anderen erkennt der Christ ein Geschöpf Gottes, eines Geschöpfes, das die Spuren seines Schöpfers in sich trägt.
Und damit geht es, wie eben schon angedeutet, noch tiefer. Im Anderen begegnet mir Gott. Und das vor allem im leidenden Anderen. Das ergibt sich aus Jesus Christus selbst.
Gott, so glauben wir, wollte sich mit den negativen Folgen, die die Freiheit des Menschen für Einzelne bedeuten konnte, nämlich, dass sie Leid erfahren und ertragen mussten, nicht abfinden- und tat das, was mit das Verrückteste ist, was den chr. Glauben auszeichnet. Dass Gott Mensch wurde, sich in das Leben seiner Geschöpfe begab und es von A-Z selber erleben musste.
In Jesus Christus weiß Gott sozusagen, was menschliches Leben bedeutet. Er kennt es aus eigenem Erleben, die Höhen UND die Tiefen.
Am Kreuz hat er erfahren müssen, wozu Menschen in der Lage sind.
Und wenn nun Gott selbst sich in die Lage bringt, schweres Leid selbst zu erleben und sich damit mit allen Leidenden solidarisiert, dann gilt das auch für diejenigen, die ihm nachfolgen, seine Jünger sein wollen.
Aus der Solidarität mit den Leidenden wird für den Christen Gottesbegegnung: Im Antlitz des leidenden Menschen sehen wir das Antlitz Jesu.

Wir werden also in dieser Fastenzeit, oder eben in dieser Passionszeit, besonders die Leidenden in den Blick nehmen. Ursprüngliche Absicht war es die leidenden Flüchtlinge auf Lesbos besonders zu betrachten, nun werden wir in ihren Augen auch das Leid der Menschen in der Ukraine sehen, denn im Leid eines jeden einzelnen spiegelt sich das Leid aller Leidenden.

Es konkret zu mindern ist ein Fastenopfer, das Gott wohlgefällt, so könnte man es traditionell formulieren.
Aber es geht nicht um Wohlgefallen. Das Wohlgefallen Gottes ist uns in Jesus zugesichert.
Es geht darum, die Liebe und das Erbarmen, das wir von Gott erfahren haben, zu teilen, es anderen spürbar zu machen, mit ihnen zu leiden, weil wir wissen, dass geteiltes Leid halbes Leid ist- und es für uns zu einer Gotteserfahrung zu machen.

Habe ich sonst bei der Spendung des Aschekreuzes immer die traditionelle Formel „Bedenke Mensch, dass Du Staub bist und zum Staub zurückkehren wirst“ benutzt, werde ich heute die Alternative „Kehre um und glaube an das Evangelium“ sagen.

Wir müssen heute nicht noch besonders auf den Tod hingewiesen werden. Er kommt uns jeden Tag in den Medien über die Berichte aus der Ukraine entgegen. Wir werden nur zu oft daran erinnert, dass wir Staub sind und dahin zurückkehren werden.
Aber wir sind im Angesicht des Leides aufgerufen, umzukehren und Tag für Tag das Evangelium zu leben.
Denn noch einmal: Im Angesicht des Leidenden entdecken wir das Antlitz Jesu.