19. November 33. Sonntag im Jahreskreis
gehalten von Br. Alexander Maly OP
Dreiunddreissigster Sonntag im Jahreskreis
Wenn die alttestamentliche Lesung heute von der „tüchtigen Frau“ spricht, stimmt mich das nachdenklich. Sicher, aus feministischer Perspektive ist der Text nicht unproblematisch, und dazu kommen wir noch, aber ich muss hier ehrlich gesagt erstmal an meine verstorbene Großmutter Elisabeth denken. Deswegen möchte ich in die Predigt heute gerne mit einer persönlichen Note einsteigen, bevor ich auf biblische Frauenbilder und das Evangelium zu sprechen komme.
Es gibt Menschen, die mit ihrer Person, all dem, was sie ausmacht, unser ganzes Leben prägen. Menschen, die uns zu der Person machen, die wir sind. Für mich war meine Großmutter solch ein Mensch. Es war ihre herzliche Bodenständigkeit, die auch stark von ihrer Arbeit im Krankenhaus geprägt war. Ein ehrliches Interesse an anderen Menschen hat sie ausgemacht, geradezu eine Begeisterung für die kleinen Dinge des Alltags. Details wie jenes, dass Ali von der Kneipe nebenan schon im September die Weihnachtsdeko installiert, was meine Oma immer bunt und lustig fand, anstatt darüber zu meckern. Es war eine oft entwaffnende und authentische Ehrlichkeit, mit der sie durch den Alltag ging. Zum Beispiel, wenn sie mit großem Ernst von einem Gespräch mit der türkischen Nachbarin erzählte, die es von allen Sünden auf der Welt für die größte hält, Brot wegzuschmeißen. Und wenn sie berichtete, wie sehr sie damit übereinstimmt.
Anlass des Gespräches der beiden war ein Alltagsmoment – ein zufälliges Treffen auf dem Gehweg nahe ihrer Wohnung in Berlin-Spandau, direkt vor der St. Nikolaikirche am Reformationsplatz. Es ist ein markanter Ort. Und eben ein Ort, an dem vieles weggeschmissen wird. Auch Brot, das dann einfach auf dem Bürgersteig herumliegt.
Diese Randnotiz aus Spandau, aus dem Leben meiner Großmutter, bringt es für mich auf den Punkt. Der christliche Glaube beweist sich in den Details und Begegnungen des Alltags, dem wachen Auge, mit dem wir durchs Leben gehen.
So ein Zugang zum Glauben ist dann das glatte Gegenteil von einem Katechismusglauben, wo Formeln bestimmen, was zu glauben und zu tun ist. Begegnungen wie die mit der türkischen Nachbarin sind es, die meiner Großmutter sagten, was an Gutem zu tun ist, wie es heute in der alttestamentlichen Lesung heißt. Und damit erinnert mich meine Oma an eine andere großartige katholische Frau, die mir diese Woche in einem Artikel begegnet ist. Madeleine Delbrêl. Vielleicht haben sie schon einmal von ihr gehört? Madeleine Delbrêl stammte aus einer nicht-religiösen Familie, ihr Vater war Künstler. Sie selbst war eigentlich Atheistin und studierte im Paris der 1920er Jahre Philosophie an der Sorbonne. „Ist das Leben nicht absurd?“, fragte sie oft in ihren frühen Schriften. Als sich ihr Verlobter plötzlich dazu entschloss, dem Dominikanerorden beizutreten, stellte das ihr Leben auf den Kopf. Das muss sich für sie völlig absurd angefühlt haben. Aber es hat auch etwas in ihr bewegt. Gerade Begegnungen mit christlichen Freunden, die ihr in dieser Zeit Halt gaben, inspirierten sie dazu, Christin zu werden. Nach einigen Überlegungen, selbst in einen Orden einzutreten, ging Delbrêl einen noch radikaleren Schritt: nämlich den zu einem Leben als Sozialarbeiterin mit den Menschen in der Pariser Vorstadt Ivry. Zu einem Leben mit Arbeiterinnen und Arbeitern also, die am Rand der Gesellschaft standen. Heute wären es wohl geflüchtete Menschen und Migranten, zu denen sie gehen würde.
Die gesellschaftlichen Strukturen dort in Ivry, wo Delbrêl lebte und wirkte, waren damals von der Arbeiterbewegung geprägt, nicht mehr von der Kirche. Was bringt das eigentlich, an so einen Ort zu gehen? Ist es da nicht besser, sich den Staub von den Fußsohlen abzuschütteln und woanders hinzugehen? Dorthin, wo die Tische schon gedeckt sind und jeder „Ja und Amen“ sagt? Das heutige Evangelium spricht hier eine andere Sprache. Es geht darum, eine pessimistische Grundhaltung zurückzuweisen und Mut zu fassen. Wir alle kennen es wohl, dieses Gefühl von: „da sind doch Hopfen und Malz eh schon verloren“. Es ist so ein bisschen, wie wenn man an einem verregneten Herbstmorgen aufwacht, und draußen ist es einfach nur kalt und ungemütlich. Wer fragt sich da nicht, ob es überhaupt Sinn macht, aufzustehen. „Unter den Voraussetzungen kann ich nie meine Bestform erreichen, da bleibe ich heute lieber im Bett“, denke ich mir manchmal.
Madeleine Delbrêl hat sich von den schwierigen sozialen Umständen in der Pariser Vorstadt nicht entmutigen lassen. Sie hatte auch keinerlei Berührungsängste vor Menschen, die keine Christen mehr sind, sondern Begriff den Dialog und die Zusammenarbeit mit Andersdenkenden als Chance und Teil ihrer Mission, fand auch Gemeinsamkeiten. Denn „je kirchenferner die Welt ist, in die man hineingeht, umso mehr muss man dann Kirche sein!“, um es mit ihren Worten zu sagen.
Und so machte Delbrêl das Bestmögliche aus ihren Talenten, wandte sich als Sozialarbeiterin in einer kirchlichen Sozialstation und als Angestellte der örtlichen Regierung radikal Schülern aus finanziell schwachen Familien, alleinerziehenden Müttern und Obdachlosen zu. Ihre Motivation war dabei nicht nur sozialer Aktivismus. All ihre Arbeit verband sie mit einer tiefen christlichen Spiritualität des Alltags, die davon ausgeht, dass uns in jedem Gesicht, in das wir blicken, der Funke Gottes schon begegnet. So wurde sie zu einer Mystikerin der Straße, oder besser, des Alltags. Delbrêl selbst beschrieb das mal so:
„Die Welt braucht nichts anderes als (…) winzige Zellen der Liebe, von ausschließlicher Liebe. Denken Sie nicht, dass Sie in den Phasen, wo alles noch so unsicher ist, Ihre Zeit vertun. Seien Sie eine kleine Zelle der Liebe da, wo Sie sind, und Sie werden für die Sache Gottes mehr bewirken als eine ganze Armee.“
Liebe Schwestern und Brüder, was bedeutet das jetzt konkret, Zellen von der Liebe Gottes zu sein? Ich würde meinen, es heißt auch, überall dort in unserem Alltag aus dem christlichen Glauben heraus laut zu werden, wo ausschließliche Liebe, wie Delbrêl es sagt, auf dem Prüfstand steht.
Ich muss hier daran denken, wie momentan im öffentlichen Diskurs in Deutschland die Seenotrettung und Aufnahme geflüchteter Menschen diskutiert wird. Es scheint einen regelrechten Überbietungswettbewerb der Kälte zu geben. Allein in diesem Jahr sind, Stand November 2023, über 2500 Menschen bei der Flucht über das Mittelmeer gestorben. Das stimmt mich fassungslos – nicht nur am heutigen Volkstrauertag. Was machen die Menschen in Europa aus dem Kapital, dass ihnen, zusammen mit den Knechten im heutigen Gleichnis, anvertraut ist? Oder, anders gefragt, was treibt Menschen dazu, aus lauter Angst den Armen und Bedürftigen, wie es die erste Lesung heute sagt, nicht mehr die Hände zu reichen? Um zur Sprache des Gleichnisses zurückzugehen: der Herr vertraut den Knechten sein gesamtes Kapital an. Was sich erst sehr kapitalistisch anhört, spricht doch eigentlich von Zutrauen und Mut. Lass den Kopf nicht hängen, sondern gib alles mit dem, was Dir geschenkt ist, lautet doch die Botschaft. Und was die alttestamentliche Lesung – zumindest durch meine feministische Brille hindurch – sehr angestaubt ausdrückt, könnte doch inhaltlich in Anbetracht der unzähligen Mittelmeertoten relevanter nicht sein: wir können mutige, wache Frauen wie Madeleine Delbrêl, meine Großmutter oder die Menschen, die Sie in Ihrem Herzen tragen, nicht genug rühmen. Frauen und auch Männer, die aus ihren Talenten alles machen und Gott die Ehre erweisen, weil sie Sein Angesicht im Gesicht des Mitmenschen erkennen.