2. Juni, 9. Sonntag im Jahreskreis

Es wäre ein leichtes mit diesem Evangelium im Rücken und dem Satz Jesu, dass der Sabbat für den Menschen da ist und nicht der Mensch für den Sabbat uns allen ein schlechtes Gewissen zu machen.

Es wäre ein leichtes uns alle zu ermahnen, den Sonntag doch bitte wieder ernster zu nehmen; es wäre so simpel uns aufzufordern, doch bitte die Sportaktivitäten oder den Kindergeburtstag der Sprösslinge am Sonntagmorgen nicht zum Anlass zu nehmen, dem Gottesdienst fernzubleiben.

Es wäre so einfach, uns zur Ruhe am 7. Tag aufzufordern, den Stress der Woche hinter uns zu lassen und uns der Muße hinzugeben.

 

Es wäre so einfach, es wäre aber auch so weltfremd.

 

Erreicht würde höchstens, dass wir zwar für einen Moment zustimmten, weil es doch schön wäre, wenn wir uns mal wieder richtig entspannen würden, anderem nachkommen könnten als nur unseren beruflichen und sozialen Verpflichtungen, aber sobald wir den Kirchraum verlassen hätten, würde dennoch alles weitergehen wie bisher. Solche Aufrufe verpuffen und ändern nichts.

Glauben und Frömmigkeit sind etwas anderes als Moral. Moral ergibt sich aus der Haltung des Glaubens, aber sie ist nicht Glauben.

 

Schauen wir doch einmal darauf, was der Hintergrund dieses Evangeliums ist. Es steht nämlich im inhaltlichen Zusammenhang mit der ersten Lesung, die wir vorhin gehört haben. Sie war dem Buch Deuteronomium entnommen. Da hieß es u.a.:

Gedenke, dass du Sklave warst im Land Ägypten und dass dich der Herr, dein Gott, mit starker Hand und ausgestrecktem Arm

von dort herausgeführt hat.

 

Eine der Grunderfahrungen des alttestamentlichen Israels war die Befreiung aus Ägypten. Dieses Ereignis übersetzte sich in die Vorstellung, dass Gott befreit, zur Freiheit führt.

Gott befreit von den Fesseln der Sklaverei, von dem, was Menschen einengt, sie am Boden hält, nicht zu dem werden lässt, wozu sie eigentlich bestimmt waren. Und das war nicht, dem Pharao in Ägypten als Sklaven zu dienen, sondern selbstbestimmt zu leben, nicht fremdbestimmt- so würden wir das heute ausdrücken.

 

Und an diese Formulierungen lässt sich für uns heute leicht anknüpfen.

Viele werden dem Satz zustimmen, dass sie sich eher fremd- als selbstbestimmt empfinden.

Dabei ist es doch verrückt: vergangene Generationen hätten sich doch nicht im  Traum vorstellen können, welche Freiheiten wir heute haben: in unser Gesellschaft ist niemand mehr zu finden, der – so er es nicht will- dazu verdammt ist, im Dorf seiner Geburt zu bleiben, weil Familie eben zusammenbleibt, dafür sorgt, dass keiner verhungern muss, die Kinder irgendwie aufwachsen, und alle das Nötigste zum Leben haben.

Kein junges Mädchen muss sich darum Sorgen machen, dass es nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten verheiratet wird oder mindestens ein oder zwei der Kinder in ein Kloster gehen, um damit versorgt zu sein.

Fremde Länder bereisen? Wenn man mal ins Nachbardorf kam, war das schon ein Ereignis. Versicherungen, die uns vor allen Unbillen des Lebens schützen? Bis zum Beginn des neuzeitlichen Sozialstaates bestand die Versicherung aus dem eben schon Erwähnten: Familie; und möglichst gut zu heiraten, wobei gut=finanziell abgesichert hieß.

 

Und dennoch haben wir heute viel zu oft den Eindruck, fremd- und nicht selbstbestimmt zu sein.

Und es stimmt ja auch: auch wenn wir viel größere Möglichkeiten als frühere Generationen haben, müssen wir, um leben zu können, eben doch vielen Dingen nachkommen, die man nicht unbedingt freiwillig und ständig machen würde, wäre man völlig frei:

grundsätzlich kann uns zwar niemand daran hindern, morgen eben nicht ins Büro zu gehen, sondern einfach liegen zu bleiben.

Aber die Konsequenzen daraus können und wollen wir dann doch nicht tragen. Die Notwendigkeiten unserer physischen Existenz zwingen uns bestimmte Dinge zu tun- sonst überleben wir nicht. Das galt früher, das gilt heute.

Absolute Freiheit ist eine Illusion. Höchstens der Grad dessen, was wir als Notwendigkeit für unser Leben bezeichnen würden, hat sich verändert, aber um essen und trinken zu können, ein Dach über dem Kopf zu haben und einigermaßen sicher leben und unsere Kinder aufziehen zu können, müssen wir bestimmte Dinge tun. Spätestens da hört die Selbstbestimmtheit auf. Fremdbestimmtheit gehört zu unserem Leben.

Auch diese Erkenntnis kann befreiend sein.

All diesen Selbstoptimierern, Propheten des „Du musst nur wollen, dann kannst Du alles“ würde ich gerne das Handwerk legen. Sie machen sich und uns allen etwas vor: Es gibt eben Begrenzungen unserer physischen Existenz. Leben auf diesem Planeten Erde bedeutet eben begrenzt zu sein, an die Gesetzmäßigkeiten des Lebens gebunden zu sein. Zufälle, Erbanlagen, die Zeit, in die wir hineingeboren werden bestimmen uns und keiner kommt davon völlig los.

Vielleicht liegt darin etwas vom Sinn unseres Lebens: Die Erfahrung nicht in völliger Losgelöstheit zu leben, nicht in der Unbekümmertheit des Garten Edens mehr, nicht mehr in der unendlichen Gegenwart des Ewigen.

Vielleicht sind wir aus dem Paradies vertrieben, um die Sehnsucht nach eben diesem Paradies wieder zu entfachen.

Vielleicht leben wir getrennt vom Ursprung des Lebens, um uns nach diesem Ursprung zurückzuwünschen.

Vielleicht sind wir hier, um die Spuren dieses Ursprungs wiederzuentdecken, vielleicht ist es das, was wir die Grunderfahrungen der Religionen nennen könnten: dass wir nämlich in uns einen Sinn für Spiritualität entdecken können, der uns über die Gesetzmäßigkeiten des Lebens auf diesem Planeten hinausführen will.

 

Und der Sabbat oder der Sonntag sind dazu da uns auf Spurensuche zu machen. Wiederzuentdecken, dass wir mehr sind als Säugetiere, die ihren Grundbedürfnissen nach essen und trinken, nach Weitergabe der eigenen Gene, nach einem Dach über dem Kopf und ein wenig Sicherheit für das eigene Leben und der eigenen Familie nachgehen.

Der Sonntag ist der Tag, an dem die Gesetzmäßigkeiten des Alltags mal nicht gelten sollten.

Nicht, weil es die Sonntagspflicht des frommen Katholiken gibt, nicht, weil die Kirche es fordert oder erwartet, nicht, weil das womöglich ein Gebot Gottes wäre, nein, weil eine Zeit, die uns freihält von den Verpflichtungen des Alltags erst die Möglichkeit eröffnet, unsere eigentlichen Wurzeln zu entdecken.

 

Weil die anderen Tage der Woche von Montag bis Samstag schon so angefüllt sind, weichen viele eben mit den Dingen, die in diese Tage nicht mehr passen, auf den Sonntag auf. Da ist ja noch was Zeit. Manchmal denke ich, was werden wir wohl machen, wenn der auch ganz angefüllt ist? Auf die Nacht ausweichen?

Es wäre ja nicht von größerer Bewandtnis, wenn eben nicht die Anforderungen der Woche mit in den Sonntag hineingenommen werden.

Wenn Du die Fitness nicht von Montag bis Samstag schaffst, dann eben am Sonntag. Wenn noch ein Bericht zu schreiben ist, dann kann man das Homeoffice doch auf den Sonntag ausweiten usw. usw.

Noch einmal: Es geht nicht darum, ein kirchliches Gesetz einzuhalten, einer Verpflichtung des Katechismus einzuhalten, es geht auch nicht darum, dass es schlimm wäre am Sonntag etwas zu tun.

Es geht nur darum, WAS man tut.

Hilft das, was wir uns z.B. für heute Nachmittag vorgenommen haben, uns auf Spurensuche nach unseren Wurzeln zu machen? Unterstützt es mich dabei, etwas vom Ursprung meines Lebens wiederzuentdecken? Kann ich bei dieser Tätigkeit etwas von Gott verspüren? Lässt es mich Abstand von den Gesetzmäßigkeiten des Alltags nehmen?

Wer in einem Marathon am Sonntag oder im Aufenthalt in der Natur, im Zusammensein mit anderen etwas entdeckt oder wiederentdeckt, das die Fesseln des Alltag löst, der kommt dem Sinn des „Am 7. Tag sollst Du ruhen“ schon näher. Wer dabei eine Ahnung von Gott bekommt, seine Spuren in unserer Welt entdeckt, der ist der Sonntagspflicht schon ziemlich nahe gekommen.

Der Sabbat ist der Tag, sich an die Befreiung aus Ägypten zu erinnern- und das geht besser, wenn man sich an diesem Tag von dem befreit, was einen an die Pflichten des Alltags bindet. Von dem, was unser persönliches Ägypten ist.

Und noch einmal: Nicht, weil das Gott gut täte, sondern, weil es uns gut täte.

 

Oder vielleicht könnte man es etwas poetischer ausdrücken:

Gott steht wie der barmherzige Vater mit offenen Armen da, immer; und wartet darauf, genau so gesehen und wiedergefunden zu werden.

Und das geht nicht, wenn wir am Boden unserer Alltagspflichten herumwühlen, sondern nur, wenn wir uns ab und an aufrichten, den Blick in den Himmel lenken statt auf die Agenda und die Nase in den Sturm des Hl. Geistes stecken. Dann sind wir auf der richtigen Spur, um den wiederzuentdecken, der uns hält, uns umfängt und zu dem wir eines Tages wieder zurückkehren.