11. Juni, 10. So. im Jahreskreis

Dieses Evangelium heute drückt vieles von dem aus, weswegen der Glaube an Jesus Christus auch heute noch anziehend sein kann oder könnte.

Es geht um etwas, was in unseren Tagen- oder vielleicht immer schon, schließlich fordert schon Jesus es ein- ein knappes Gut geworden ist. Da gibt es zwar einiges, Zeit z.B., Zufriedenheit, Dankbarkeit, Mut und Furchtlosigkeit, aber eines fällt mir in der öffentlichen Debatte zunehmend auf: nämlich, dass die Barmherzigkeit fehlt.

Das fängt ja schon damit an, dass dieses Wort so gut wie überhaupt nicht mehr benutzt wird;  auch seine Synonyme sind selten in Gebrauch: Gnade z.B. oder Nachsicht oder das Wort Milde.

Wann haben Sie auch nur eines dieser Wörter zum letzten Mal benutzt? Gnade oder gnädig sein? In welchem Zusammenhang?

Nachsicht? Klingt nach Weichheit, mit der man nicht weit kommt; und Milde klingt lauwarm, so irgendwie dazwischen, aber nicht eindeutig.

 

Und die Barmherzigkeit?

Mit der macht man auch keinen Staat mehr, wortwörtlich und im übertragenen Sinne nicht.

Barmherzigkeit ist was für die Schwachen, auf dem Markt der Starken und Erfolgreichen hat die nichts zu suchen. Barmherzigkeit ist nichts für die unter dem Gesetze Darwins Stehenden, nach dem die Fittesten die weniger fitten verdrängen. Barmherzigkeit ist was für mildtätige Orden, für Sozialorganisationen, die sich um die Verlorenen kümmern; aber die kommen nicht im DAX oder bei anderen Weltbörsen vor, auf dem Markt der Erfolgreichen haben die Barmherzigen nicht viel zu gewinnen.

 

Dabei ist es gar nicht so selten, auch einmal Barmherzigkeit zu benötigen. Alle, die z.B. schon einmal aus dem Regelwerk des Immer-Machen-Müssens herausgefallen sind, brauchen genau dies, Barmherzigkeit;

alle, die einfach nicht mehr können, haben nichts nötiger als das: Barmherzigkeit;

alle, die durch Schwäche, Krankheit oder Älter nicht mehr mitkommen, benötigen genau das: Barmherzigkeit.

Gerade dann, wenn die vermeintlich Starken dazu neigen auf eben diese vermeintlich Schwachen herabzuschauen, nach dem Motto: Was? Der schafft das nicht? Ach je…

Die einzige Milde, die diesen oft entgegengebracht wird, ist das Lächeln, nämlich ein mildes.

 

Dabei kann man so einfach im täglichen Leben auf die Barmherzigkeit angewiesen sein.  Ein falsches Wort in einem Internetforum z.B. kann mich durch ein Shitstorm fertigmachen. Barmherzigkeit? Versuchen zu verstehen, was diesen Menschen dazu gebracht hat, dies oder jenes zu äußern? Fehlanzeige?

 

Barmherzigkeit ist also etwas, was unserer Gesellschaft guttäte und- je nach Situation- auch jedem von uns selbst.

 

Warum ist es so schwer mit der Barmherzigkeit?

Vermutlich hat das zunächst einmal seine Wurzeln in unserer Psyche. Als Menschen sind wir meist unbewusst ständig im Wettbewerb mit den anderen. Evolutionär war und ist es ein Vorteil stärker als die anderen zu sein. Meine Gene werden erfolgreich weitergereicht, wenn ich stärker als der Konkurrent bin.

Zusätzlich ist es von Vorteil, dass die anderen auch wahrnehmen, dass ich stärker bin. Es ist ja nicht jedem gleich von vornherein anzusehen. Stärke besteht ja nicht nur aus kräftigen Muskeln, sondern auch aus stabiler Psyche z.B., oder aus einem hohen Intellekt oder aus einem guten Netzwerk mit anderen;

aus Machtmitteln wie Wohlstand und guter beruflicher Position. Eine ganze Fülle also, die sichtbar sein muss, um dem anderen deutlich zu machen, dass ich zu den Starken gehöre.

 

Nun ist das noch kein Grund, Schwächere links liegen zu lassen, im Gegenteil – sich auf Schwächere einzulassen, könnte mich ja noch stärker glänzen lassen.

Das ist wohl auch so.

Aber Barmherzigkeit erfordert ja gerade, den Schwachen NICHT in seiner Position zu belassen, Gnade, Milde und Nachsicht wollen den Schwachen erheben, ihn stärken um ihn eben nicht mehr schwach aussehen zu lassen.

Und da haben wir das Problem:

Wenn meine genetische Ausstattung es vorgibt, immer möglichst stark im Vergleich zu anderen dazustehen, dann ist mein Interesse gering, jemanden anderen zu stärken.

Die Biologie hat uns nicht damit ausgestattet, den Schwachen beizustehen, sondern möglichst selbst stark wahrgenommen zu werden.

Es gibt dabei zwar Ausnahmen: es ist ja für den Einzelnen ggf. von Vorteil, Teil einer Gruppe zu sein.

Sie verspricht Schutz und im Vergleich mit anderen Individuen oder Gruppen Verstärkung meiner eigenen Position.

Innerhalb einer Gruppe ist der Mensch sehr wohl bereit, den anderen zu stärken. Wenn man den anderen als Teil des eigenen Verbandes wahrnimmt, dann ist es viel leichter, diesen zu stärken als einen, der eben nicht dazugehört.

Den Nichtdazugehörigen zu stärken, würde bedeuten, dessen Gruppe zu stärken, statt die eigene.

Dieses Muster lässt sich immer wieder beobachten. So ist es vielen Ländern viel leichter gefallen, ukrainische Flüchtlinge aufzunehmen als Flüchtlinge aus Syrien oder gar aus Afghanistan.

Ukrainer sind Europäer mit christlichem Hintergrund, gehören also eher zu unserer Gruppe, zu unserem Stamm als die islamisch geprägten Araber und Zentralasiaten.

Psychologisch völlig nachvollziehbar. Wir geben unseren Genen nach, wenn wir die eigene Kohorte stärken, nicht die andere.

 

Der große Beitrag des Christentums zur Humanisierung des Umgangs des Menschen miteinander kann oder könnte immer wieder darin liegen, eben diese Grenzen zu überwinden.

Der Konflikt ist ja im Neuen Testament wunderbar wiederzufinden.

Sollte sich der neue Glaube an Christus öffnen für die sogenannten Heiden? Oder sollte er nur eine Reform des Judentums sein und sich damit nur auf das jüdische Volk beziehen?

Die große Leistung des Paulus ist es, das überwunden zu haben. Die ganze Menschheit war angesprochen. Jesus Leben, Tod und Auferstehung und die daraus sich ergebenden Konsequenzen galten nicht mehr nur dem jüdischen Volk, sondern allen Völkern.

Und die Barmherzigkeit ist ein Ausdruck für die Überwindung dieser Grenzen.

Wir sollen auch den stärken, der schwächer ist;

wir sollen ihn auf unser Niveau heben-

und vor allem können wir das.

Wir haben nämlich nichts zu verlieren. Christen verstehen sich nicht als eine Gruppierung, die sich nach außen abschließen muss, andere klein halten muss, damit man selbst stark da steht, sondern Christen dürfen sich geliebt, anerkannt und gestärkt fühlen durch die Liebe Gottes- oder früher hätte man die Gnade Gottes gesagt: Gott ist gnädig zu Dir dem Schwachen.

Er hat kein Problem damit, Dich zu stärken, Dich zum Abbild seiner selbst zu erklären- und deswegen musst auch Du keine Angst davor haben, den Schwachen zu stärken.

Gelebte Barmherzigkeit auch über die Grenzen der eigenen Gruppe hinaus ist Zeugnis für die Erfahrung, selbst schon geliebt und gestärkt zu sein; und die Stärkung nicht dadurch zu erhalten, den anderen schwach zu halten, damit ich umso stärker erscheinen kann.

Die Pharisäer- auch heute wieder im Evangelium- sind die typischen Repräsentanten einer Gruppe, in der der Zusammenhalt in der Gruppe gestärkt werden muss, damit man gegenüber anderen stark bleibt.

Deswegen müssen bei ihnen strikt die Regeln eingehalten werden. Eine Aufweichung führt zur Schwäche und das könnte anderen die Gelegenheit geben, stärker zu werden und gar die eigene Gruppe in die Bedeutungslosigkeit überführen zu können.

Das ist der Grund, warum auf der eben beschriebenen psychologischen Ebene die Pharisäer fragen:    Wie kann euer Meister zusammen mit Zöllnern und Sündern essen?

Wie kann er das tun? Die verstoßen doch gegen unsere Regeln des Zusammenlebens- übersetzt: die schwächen unsere Gruppe.
Er hörte es und sagte: Nicht die Gesunden bedürfen des Arztes,
sondern die Kranken.

Jesus tut das Ungeheure, indem er sich den Schwachen zuwendet und diese damit stärkt und sie damit zu Konkurrenten macht. Und setzt noch eins drauf:
Geht und lernt, was es heißt: Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer! Denn ich bin nicht gekommen, um Gerechte zu rufen,
sondern Sünder.
Sünder sind die Abgesonderten, diejenigen, die durch ihr Verhalten nicht zur Gruppe gehören. Denen sollen wir uns zuwenden- und noch einmal: Diesen können wir uns auch zuwenden ohne selbst geschwächt zu werden, weil wir von unserem Gott schon gestärkt sind.