Erntedank 06. Oktober
Laut Umfragen sagt eine Mehrheit der Deutschen, ihnen persönlich gehe es gut oder sehr gut.
Aber ebenso ist eine Mehrheit davon überzeugt, dass es schlecht aussieht mit der Welt um sie herum. Die Unterschiede zwischen Arm und Reich etwa halten wiederum viele der Befragten für ein großes oder ein sehr großes Problem.
Fragt man sie allerdings nach ihren persönlichen Erfahrungen, also: „Fühlen Sie sich in unserer Gesellschaft benachteiligt?“, dann sind es gerade einmal ein Fünftel, die mit „Ja“ antworten.
Es gibt also ein Missverhältnis zwischen unserer Einschätzung und den Fakten, und das lässt sich bei vielen weiteren Fragen beobachten. Immer nach dem Motto: „Mir geht es gut, aber die Welt geht vor die Hunde.“
Dieses erstaunliche Phänomen ist mittlerweile recht gut erforscht: Wir reagieren übermäßig stark auf schlechte Nachrichten. In unserem Gehirn wohnt eine Art Schwarzseher. Das war in der Menschheitsgeschichte eine sinnvolle Einrichtung. Die allzu Tollkühnen sind schon in der Steinzeit vorzeitig ausgestorben. Wer dagegen ständig ein wenig Angst hatte und sehr vorsichtig war, der hatte bessere Überlebenschancen.
Eine einleuchtende Tatsache: Wir sind also die Nachkommen der Ängstlichen.
Heute, in einer Welt voller Medien und Nachrichten und Erlebnissen aus zweiter Hand, da kann diese Vorliebe fürs Bedrohliche allerdings zum Problem werden. Denn falsche Einschätzungen über die Wirklichkeit können die Wirklichkeit verändern, und zwar zum Schlechteren. Das ist die berühmte „sich selbst erfüllende Prophezeiung“.
Ein Beispiel. Es muss schon ein paar Jahr her sein. Da lautete das Thema der ARD-Talkshow mit Sandra Maischberger: „Kann der Staat uns noch schützen?“. Aufhänger war die damalige Zunahme der Wohnungseinbrüche in Deutschland.
Die Teilnehmer übertrafen sich gegenseitig mit Warnungen und schlimmen Aussichten, und währenddessen war im Hintergrund eine Zeit lang das Innere eines Waffengeschäfts zu sehen.
Was geschah?
Am nächsten Tag stieg die Zahl der Waffenkäufe um 25 Prozent. Eine erstaunliche Entwicklung, über die sogar die Bild-Zeitung berichtete.
Daraufhin nahmen die Waffenkäufe noch einmal zu.
Wir haben dadurch noch keine Zustände wie in den USA, wo auf 100 Einwohner 88 private Schusswaffen kommen. Aber was für Phantasien wurden da freigesetzt: auf einen Einbrecher zu schießen? Eigentlich doch unglaublich, was eine einzige Sendung bewirken kann, die so sehr auf Angst setzt.
Besonders gefährlich ist das geworden, seit das Wissen über unsere Vorliebe für Katastrophen in die Hände der Wahlkampfstrategen gelangt ist. Die bisher spektakulärste Anwendung war der Wahlsieg von Donald Trump. Den Amerikanern ging es 2016 gut, die Zufriedenheitswerte lagen damals höher als bei uns. Die Regierung hatte, trotz vieler negativer Schlagzeilen gegen Ende, gut gearbeitet. Das wäre eigentlich eine schöne Wahlkampfbotschaft gewesen: „Wir haben unser Land erfolgreich vorangebracht, bitte gebt uns auch für die nächsten Jahre eure Stimme!“ Aber so eine Aussage langweilt den Steinzeitpessimisten in unserem Hirn. Der hört viel aufmerksamer zu, wenn jemand ruft: „Unser Land ist am Ende. Wir sind nur noch ein Schatten von dem, was wir einmal waren. Make America great again!“ Trumps knapper Wahlsieg war kein Erfolg des besseren Parteiprogramms, sondern der besseren Angstmache.
Kritische Menschen werden vom Publikum stets für besonders intelligent gehalten. Wer über Erfolge spricht und dankbar ist über das Erreichte, der gilt dagegen als naiv – noch so eine klassische Fehleinschätzung unseres Gehirns.
Leider laufen bei uns die gleichen Mechanismen ab wie in den USA und in anderen Demokratien. So weit, dass inzwischen sogar von der Krise der Demokratie gesprochen wird. Und alles nur, weil wir uns bei unserem Kreuz auf dem Stimmzettel von unserer Angst leiten lassen. Wir müssten mehr Misstrauen den Untergangspredigern gegenüber entwickeln.
Es ist leider so: Wer warnt, findet immer aufmerksame Zuhörer. Je dicker er dabei aufträgt, umso mehr. Fakten spielen keine Rolle, Hauptsache, den Menschen wird angst und bange.
Also, was tun gegen die Angst?
Ich meine – das Danken.
Dass wir danken können, ist eine – leider oft unterschätzte – wunderbare Kraft unserer Seele.
Heute ist Erntedankfest, und der zweite Lesungstext für heute könnte passender nicht sein. Es sind ein paar Sätze aus dem ersten Brief von Paulus an Timotheus. Sie stehen dort im 4. Kapitel. Ich lese es noch einmal:
Der Geist Gottes sagt durch den Mund von Propheten klar und deutlich voraus, dass in den letzten Tagen dieser Welt manche ihren Glauben verlieren werden. Sie werden sich Leuten anschließen, die sie mit ihren Eingebungen in die Irre führen. Sie werden den Lehren dämonischer Mächte folgen. Diese Leute sind scheinheilige Lügner, ihre Schande ist ihrem Gewissen eingebrannt. Sie lehren, dass man nicht heiraten darf, und verbieten, bestimmte Speisen zu essen. Dabei hat doch Gott diese Speisen geschaffen, damit sie von denen, die an ihn glauben und die Wahrheit erkannt haben, dankbar verzehrt werden. Denn alles, was Gott geschaffen hat, ist gut. Wir brauchen nichts davon abzulehnen, sondern dürfen alles gebrauchen – wenn wir es nur mit Dank aus der Hand Gottes empfangen. Denn durch das Wort Gottes und durch unser Dankgebet wird es rein und heilig.
An diesem bald 2000 Jahre alten Text kann man sehen: Untergangsprediger gab es schon immer. Sie haben gewarnt, sie haben Alarm geschlagen, Verbote verkündet.
Von Jesus sind erstaunlich wenige solcher Warnungen überliefert.
Er hat viel vom Reich Gottes gesprochen, von einem Reich des gegenseitigen Verstehens. Eine Welt der Versöhnung, in der die Verlorenen gesucht und wiedergefunden werden. Auf Dauer war das die bessere und erfolgreichere Botschaft, Gott sei Dank. Denn im tiefsten Grund ihres Herzens wünschen sich die Menschen Frieden, sie sehnen sich nach Befreiung von ihren Leiden: „People want peace, and a simple release from their suffering.”, so heißt es in einem Stück von Paul McCartney.
Der Mann ist inzwischen 82 und dennoch strahlen seine Stücke immer noch eine tiefe Lebensfreude aus. Manche sind wie Medizin. Diesen Frohsinn haben ihm die Kritiker natürlich auch vorgeworfen. Zu easy, zu sonnig, zu kindlich.
Aber woher kommt sein Lebensgefühl? Es gibt auf YouTube ein Interview mit ihm, da fährt der australische TV-Moderator James Corden Paul McCartney im Auto durch Liverpool, McCartneys Heimatstadt.
Corden fragt ihn, woher diese positive Grundstimmung in seinen Liedern kommt. Und McCartney erzählt: Seine Mutter starb, als er gerade mal 14 Jahre alt war. Ein paar Jahre später hatte er einen Traum, in dem seine verstorbene Mutter zu ihm kam und sagte: „It’s ok. Just let it be.“ „Alles ist gut. Lass es geschehen.“
Das, so sah er es offenbar, war das Urerlebnis für sein Vertrauen ins Leben. Aus diesem Traum hat er ein berühmtes Lied gemacht: Let it be. „In meinen dunkelsten Stunden kam Mutter Mary zu mir und sagte: Lass es geschehen.“ Die meisten Hörer dachten, „Mother Mary“ hätte sicher zu tun mit der Maria aus der Bibel, der Mutter Jesu. Aber – es war einfach Pauls Mama, Mary McCartney.
„Let it be“, „lass es geschehen“ – das ist ein wichtiger Aspekt christlicher Lebenskunst. Es gibt das schöne Wort von der „heiteren Gelassenheit des Glaubens“: nicht gleich mit der moralischen Keule daherkommen und aus lauter Angst in Angriffsstellung gehen, sondern mit dem vermeintlichen Gegner ins Gespräch kommen. Ihm zuhören, ihn verstehen lernen. Das wäre kein schlechter Rat für die aktuelle politische Diskussion.
Dazu braucht es Urvertrauen.
Ich denke, viele Menschen bekommen es, so wie Paul McCartney es erzählt hat, von ihrer Mutter. Deswegen sagen wir auch „Mutter Natur“ oder „Mutter Erde“. Und das Urgefühl schlechthin gegenüber Mutter Erde ist eine fundamentale Dankbarkeit.
„Danke“ sagen zu den Gaben der Natur, „Danke“ sagen zu den Produkten der Landwirtschaft, die wir am Erntedankfest auf den Altar legen – das ist ein Akt der Verbindung. Durch unser Dankgebet, schreibt Paulus, machen wir die Schöpfung heilig und rein. Dankesagen ist eine Liebeserklärung. Wir Menschen sind Teil der Natur, wir gehören zusammen, wir sind aufeinander angewiesen und miteinander verbunden.
Dankbarkeit ist etwas, das jeder in jeder Lebenssituation anwenden kann, weil es immer etwas gibt, für das man dankbar sein kann- und sei es der blaue Himmel oder die Tatsache, dass ich atmen kann, etwas zu essen habe oder einen Körper habe, der mich die Welt erfahren lässt.
Dankbarkeit ist dabei dann nicht nur eine schnuckelige Emotion für gefühlsduselige Schwärmer, sondern Dankbarkeit ist sogar politisch. Sie kann -so meine ich- sogar ein Schutzschild gegen den Populismus sein, weil sie die Angst bekämpft und in Relation zur Wirklichkeit bringt. Gott sei Dank.