22. Juni, 12. Sonntag im Jahreskreis

Ausgeliehen aus der Ethnologie gibt es auch in psychologischer Literatur den Begriff „Tribalismus“. Dieses Stammestum, wie man es ins Deutsche übersetzen könnte, bezeichnet eine Sichtweise der  Gesellschaft als eine Menge kleinerer Gemeinschaften, von tribes, von Stämmen eben.

Damit wird gesagt, dass es für den Menschen der Urzeit wichtig war, sich in Gemeinschaften einzufügen, Teil einer Gruppe zu sein, denn alleine konnte kein Mensch überleben. Und diese Gruppen unterschieden sich in Gebräuchen und Sitten, allein schon, um sich voneinander  abzusetzen, denn das wiederum stärkte die eigene Identität.

So wird nun heute behauptet, dass diese Einstellung, dieser Tribalismus eben, immer noch Teil unserer Verhaltensweise ist: Entwicklung gruppeneigener Traditionen, damit Sich-Absetzen von anderen Gruppen, was wiederum die eigene Identität steigert. Durch den Zusammenhalt in der heimatlichen Gruppe wird diese gestärkt und ist Gefahren von außen besser gewappnet.

Man muss sich nur die Gruppen anschauen, zu denen man selbst gehört, um dieser  These etwas abgewinnen zu können: Fußballvereine, Stammtische, Hobbygruppen, politische Parteien, aber eben auch religiöse Gemeinschaften. Gemeinden bilden Identitäten aus. St. Paulus fühlt sich anders als St. Henri in unserer Nachbarschaft, die katholische Kirche fühlt sich anders an als die evangelische, die Grünen anders als die AfD. Nun könnte man einwenden, diese unterschiedlichen Gruppen basieren ja auf unterschiedlichen Parteiprogrammen oder auf unterschiedlichen Glaubensauslegungen und sind deswegen anders. Das stimmt sicher, aber DASS wir uns der einen oder anderen anschließen hat etwas mit Abgrenzung von anderen zu tun und dass wir bestimmte Rituale in unserer Gruppe pflegen hat was mit Stärkung der eigenen Identität zu tun.

Es fällt uns schwerer, das Anderssein der anderen zu bewundern und wertzuschätzen als den wohligen Stallgeruch der eigenen Gemeinschaft zu riechen und sich damit zuhause zu fühlen.

 

Rufen Sie sich auf diesem Hintergrund noch einmal die heutige Lesung in  Erinnerung. Ich helfe Ihnen ein bisschen dabei: Ihr alle seid durch den Glauben Kinder Gottes in Christus Jesus.

Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen. Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht männlich und weiblich; denn ihr alle seid einer in Christus Jesus.

Dieser Text war nicht nur im religiösen Sinne eine Revolution, sondern auch auf dem eben bedachten psychologischen Hintergrund. Bisher waren die ersten Christen entweder Juden und hatten sich dort zuhause gefühlt oder sie waren sogenannte Heiden, die etwas komplett anderes geglaubt hatten- hatten sich aber darin zuhause gefühlt.

Diese ersten Christen waren entweder freie Bürger mit dem entsprechenden Standesdünkel oder Sklaven, die zu den anderen in der Regel nur ängstlich aufblickten und sich mit anderen Sklaven solidarisierten.

Und natürlich waren auch die ersten Christen entweder Männer oder Frauen, die wiederum eine jeweils eigene Identität entwickelt hatten, Kaffeekränzchen oder Stammtisch eben. Diese Grenzen wischt Paulus in seinem Brief an die Gemeinde in Galatien -eine römische Provinz übrigens, die heute in der türkischen Region um Ankara liegt- einfach fort.

Diese Grenze sollte nicht mehr gelten. Man kann nur noch ahnen mit welchen Schwierigkeiten die ersten Gemeindebildungen zu tun  hatten. Paulus musste dafür kämpfen, dass sich eben nicht nur die sogenannten Judenchristen zusammenschlossen, sondern offen blieben auch für die sogenannten Heidenchristen. Er hatte dafür zu sorgen, dass freie Bürger auch Sklaven in ihren Gemeinden akzeptierten und nicht jeweils unter sich blieben. Und ob nun einer aus Galatien oder aus Rom, aus Libyen oder von Kreta kam: nicht die territoriale Herkunft entschied über die Mitgliedschaft in einer christlichen Gemeinde, sondern allein eine  einzige Tatsache: Denn Ihr alle seid einer in Christus Jesus, hatte er ihnen ins Stammbuch geschrieben, ins Tribalbuch sozusagen.

Er hatte ihnen, seiner Gruppe, seinem Stamm eine neue übergeordnete Identität verliehen: die des Christus Jesus, die  des Christen eben.

Nach Paulus zählen keine gesellschaftlichen Unterschiede, keine nationalen Identitäten, keine Festlegungen auf das eigene Geschlecht, sondern nur die Berufung von und auf Jesus Christus. Wer sich auf ihn beruft, akzeptiert keine trennenden Unterschiede mehr. Am Ende zählt nur das Menschsein. Psychologisch und auf dem eben bedachten Hintergrund des Tribalismus funktioniert das aber nur  dann, wenn sich diese riesige grenzenlose Gruppe eine neue Identität gibt, die des Christen. Nur auf das Menschsein als identitätsstiftendes Merkmal zu setzen überfordert die menschliche Psyche. Wir brauchen die Abgrenzung, den Stallgeruch der heimatlichen Gemeinschaft, um uns sicher zu fühlen.

Und dennoch fordert Paulus Satz dazu auf, immer wieder diese Grenzen zu überwinden, sie nicht als gegeben anzuerkennen, sondern als das, was sie sind anzusehen: Willkürlich von Menschen gesetzte Abgrenzungen, um die Identität der eigenen Gruppe zu stärken.

Wir sehen ja, wo es endet, wenn dem Gefühl der eigenen Gruppenidentität nachgegeben wird: Anhänger verschiedener Fußballclubs prügeln sich, ethnische Gruppen, die eine Zeitlang friedlich nebeneinander gelebt haben, fallen übereinander her und zerstören wie damals in Jugoslawien ein ganzes Land und lassen es zerfallen oder bringen sich wie die Tutsis und Hutus in Ruanda gegeneinander um.

Religiöse Gruppen und Konfessionen belegen sich gegenseitig mit dem Bannstrahl der Irrlehre, Schiiten  und Sunniten gehen sich im Nahen Osten gegenseitig an die Kehle und der dreißigjährige Krieg im 17. Jahrhundert, der ja auch ein Religionskrieg war, hat ganze mitteleuropäische Regionen in Ruinen gelegt.

Wenn wir den Emotionen der Gruppenzugehörigkeit nachgeben, endet es meistens nicht gut, wird Blut vergossen und am Ende müssen sich die Überlebenden eine neue  Identität geben, um endlich wieder friedlich miteinander leben zu können.

Wir Menschen, auch wir Christen müssen den Verstand einsetzen, um unsere Instinkte zu überwinden. Denn diese beruhen  auf der Angst voreinander und entwickeln auch da ihre vernichtende Kraft, wo die Angst voreinander gar nicht notwendig wäre.

Nichts scheint mir in diesen aufgewühlten Zeiten wichtiger zu sein als die eigenen Gefühle, die eigenen  Emotionen, die auf uralten Instinkten der Abgrenzung beruhen, mit dem Verstand zu kontrollieren. Erst einmal nachdenken, bevor ich einen Kommentar abgebe und poste. Erst einmal runterkommen, bevor ich spontan reagiere. Erst einmal eine Nacht drüberschlafen, bevor ich eine Antwort gebe.

 

Menschlich gesehen brauchen wir Grenzen;  Grenzen aber, die durch Christus überwunden wurden, weil er in jedem das Abbild seines Vaters sehen konnte.

Wer sich an Christus bindet, hat die Chance die eigene Angst zu überwinden. Christus macht frei, denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen. Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht männlich und weiblich;

denn ihr alle seid einer in Christus Jesus.