22. September, 25. So. im Jahreskreis
Schon so oft gehört, so oft auch als sinnvoll erkannt, manche wurden sogar zu geflügelten Worten, Redewendungen oder Sprichwörtern- und doch bleiben sie immer wieder herausfordernd, weil sich an den Zuständen, die sie aufgreifen, so wenig oder gar Garnichts verändert hat.
So ein Bibelwort haben wir eben wieder gehört: Der Erste unter Euch soll der Letzte sein oder in anderen Versionen dieses Verses: Die Letzten WERDEN die Ersten sein; oder die Ersten sollen die Diener aller sein.
So klingt es seit Jahrhunderten durch die Kirchenschiffe, tausend- und abertausend Mal bepredigt, millionenfach betroffen gehört – und dennoch meint man, dass es nach wie vor aktuell ist, weil es immer noch nicht umgesetzt ist und die Letzten immer noch die Diener der Ersten sind, die Größten nicht zu den Kleinsten wurden und die Kleinsten nach wie vor gucken müssen, wo sie bleiben…
Was für diese Stelle gilt, gilt auch für andere: Ziehe zuerst den Balken aus Deinem eigenen Auge, bevor Du den Splitter aus dem des anderen ziehst; oder: Halte dem, der Dich auf die eine Wange schlägt, auch die zweite hin. Klingt alles großartig, aber kann tausendmal wiederholt werden, aber es wird höchstens ab und an oder nur teilweise und von wenigen umgesetzt, weswegen es nach wie vor immer wieder zum Zentrum von Predigten wird, die an unsere Moral und Ethik appellieren.
Warum aber lesen wir das dann überhaupt noch, wenn die Wirksamkeit offenbar so gering ist? Warum schrauben wir die Ansprüche nicht einfach ein wenig herunter? Es wäre doch schon viel gewonnen, wenn die Ersten die Letzten nicht als ebensolche behandeln würden, sondern wenigstens ebenbürtig- aber gleich die Rollen tauschen? Den Titel des Ersten abgeben und sich den des Letzten auf die Stirn schreiben oder um den Hals hängen?
„Ach lass mal- das kommt in Heiligenlegenden vor aber nicht im richtigen Leben.“- so denken wir dann vermutlich.
Warum also?
Eine Antwort wird in Bezug auf Jesus zu finden sein.
Wir Christen verehren ihn als Sohn Gottes, ja, gar als Gott selbst, mit ihm und dem Hl. Geist vereint in der Trinität.
In dieser Sichtweise gibt es gar keinen Spielraum um Jesus NICHT als Ersten zu sehen.
Und was tut dieser Erste?
Er wird Mensch, hat keine gesellschaftlichen oder politischen Titel, lebt von der Hand in den Mund, wandert durch seine Heimat ohne festen Wohnsitz und wird auch noch mit nur 33 Jahren hingerichtet.
Doch wohl eher unter die Letzten zu rechnen als unter die Ersten.
Und wenn das schon für ihr Vorbild gilt, dann gibt es keine Chance diesen Maßstab nicht auch an die anzulegen, die sich auf ihn berufen, ihm nachfolgen wollen.
Wenn der Chef einer Firma diese Haltung als für die Firma prägend vorstellt, als deren Wertebasis, dann kann der Angestellte nicht anders als die Haltung ebenfalls zu teilen- sonst sucht er sich besser eine andere Stelle.
Kurz zusammengefasst: Wenn Jesus als Sohn Gottes vom Ersten zum Letzten wird, dann gilt das als Vorbild auch für unser Denken, Sprechen und Handeln.
Aber halt: Jesus mag ja unserer Auffassung nach Sohn Gottes – und damit wirklich Erster sein- aber wir sind doch nur seine Geschöpfe.
Richtig. So hätte man schon eine Erklärung dafür, warum wir diese Lehre Jesu eben nicht so 100%ig umsetzen können wie er es getan hat. Wir sind nicht Gott, wir sind seine Geschöpfe, wir sind nicht unfehlbar und allmächtig, sondern voller Makel und Fehler und oft genug machtlos- ohne Macht, ohnmächtig.
Ganz sicher ist das eine Erklärung, aber keine Entschuldigung. Jedenfalls keine dafür, es nicht wenigstens zu versuchen oder womöglich wenigstens ansatzweise die vermeintlich gottgegebenen Verhältnisse aufzubrechen.
Wir als Gemeinschaft derer, die sich an Jesus orientieren, ihm nachfolgen, wie man biblisch sagen würde, müssen Jesus nach den Anspruch haben, unsere Kirche und unsere Gemeinden so zu prägen, dass wir die Letzten im Blick haben, uns ihnen zuwenden und uns nicht ausschließlich selbst selbstzufrieden den dicken Bauch streicheln.
In uns muss die Gewissheit erhalten bleiben, dass es nicht richtig ist und für Jesu Jünger nie richtig sein kann, die Ungerechtigkeiten dieser Welt hinzunehmen.
Und das ist der zweite Grund, weswegen es immer wieder trotz aller vermeintlichen Wirkungslosigkeit vorgelesen wird: Es soll uns Mahnung, Stachel im Fleisch sein und bleiben.
Wie einfach könnte es sein, sich mit dem für sich Erreichten zufrieden zu geben, wie leicht wäre es im Sinne mancher evangelikaler Kirchen vor allem in den USA den eigenen Wohlstand als Belohnung Gottes zu sehen – und damit die Armut anderer automatisch, zumindest unbewusst als deren Schuld und daraus erfolgender Bestrafung Gottes zu deuten.
Mit dem heutigen Evangelium im Rücken aber geht das nicht: Die Ersten, die Reichen sollen die Diener der Letzten sein. Autsch- könnte man sagen. Das tut weh. Und das soll es auch.
Aber nicht nur: Die heutige Perikope endet ja nicht mit diesem Wort, sondern schließt noch mit einer Handlung Jesu ab, die zunächst gar nicht zum Vorhergesagten zu passen scheint:
Er nimmt nämlich als Beispiel vor seinen Jüngern ein Kind in seine Arme.
Das Kind ist hier ein Symbol für die Bedürftigkeit der Kleinen und Schutzlosen. Der Fokus der Jüngergemeinschaft, der Kirche, der Gemeinden muss auf die Kleinen, die Bedürftigen, die Schutzlosen gerichtet sein. Die stehen bei Jesus nicht am Rande, nicht hinter den Großen in den ersten Reihen, sondern vor ihnen, in deren Mitte.
Sie sind ständige Mahnung und Aufforderung.
Und sie sind noch etwas darüber hinaus:
Sie sind auch Vorbilder. Nicht weil sie großartiges leisten, so süß spielen oder uns zum Lächeln bringen, sondern weil sie uns an etwas erinnern, was erst Voraussetzung dafür ist, im eben beschriebenen Sinne Jesu zu handeln.
Sie stehen für Vertrauen.
Bekanntlich – das kennt jede Mutter, jeder Vater aus eigener Erfahrung- vertrauen ihnen, zumindest in den ersten Lebensjahren, ihre Kinder blind. Da gibt es keinerlei Zweifel, kein Wimpernzucken, keinen zweiten Gedanken: Mit ihrem Vertrauen liefern sie sich den Eltern komplett aus. Und können sich in der Regel auch darauf verlassen, dass Mutter und Vater alles für sie tun. Sie müssen nur eines tun: leben und vertrauen.
Das ist der Grundgedanke, der hinter der heutigen Lesungsstelle steht:
Ihr braucht den Status des Ersten nicht und könnt Euch den Letzten zuwenden, ja, gar zum Letzten werden, weil Ihr darauf vertrauen dürft, dass Euer Vater im Himmel stets mit offenen Armen bereitsteht, um Euch entgegenzugehen und zu trösten.
Dass unsere gesellschaftlichen und kirchlichen Ordnungen nach wie vor so wenig dieser Forderung Jesu entsprechen ist somit weniger eine Weigerung sich diese Forderung zu eigen zu machen und umzusetzen, sondern mehr eine Vertrauenskrise, eine Gottvertrauenskrise.
Wir sind Menschen und wir bleiben Menschen, weswegen die Umsetzung dessen, was der Sohn Gottes auf Erden schaffte für uns immer nur stückweise zu schaffen ist. Aber, wo immer wir das Vertrauen auf Gottes Anwesenheit wachsen lassen, die Gewissheit aus ihm zu kommen und zu ihm zurückzukehren reifen lassen, können wir zumindest das: ein wenig mehr vom Reich Gottes unter uns sichtbar werden lassen; und dabei darauf zu vertrauen, dass wenn wir uns den Letzten zuwenden, wir nicht verlassen sind, sondern ganz neue Kräfte in uns wachsen werden.